Seherin von Kell
wandeln hier am Rande eines Abgrunds. Sollte jemand sehen, daß du etwas an dich nimmst, könnten wir alle in größte Schwierigkeiten geraten.«
»Belgarath!« entgegnete Silk gekränkten Tons. »Niemand hat mich je etwas stehlen sehen.« Vor sich hinmurmelnd, verließ er das Gemach.
»Will er damit sagen, daß er nicht stiehlt?« fragte Zakath.
»Nein«, erklärte ihm Eriond, »lediglich, daß er dabei noch nie erwischt worden ist.« Er lächelte sanft. »Er hat ein paar schlechte Angewohnheiten, aber wir versuchen, sie ihm abzugewöhnen.« Es war zum erstenmal seit geraumer Zeit, daß Garion seinen jungen Freund überhaupt etwas sagen hörte. Eriond war zunehmend schweigsamer geworden. Es war beunruhigend. Er war immer ein eigenartiger Junge gewesen, der Dinge wahrzunehmen schien wie sonst keiner von ihnen. Garion wurde kalt ums Herz, als er sich an die schicksalsschweren Worte von Cyradis in Rheon erinnerte: »Eure Suche wird Euch durch große Gefahr führen, Belgarion, und dabei wird einer Eurer Begleiter sein Leben lassen müssen.«
Und dann, fast als hätte seine Erinnerung sie gerufen, trat die Seherin von Kell aus dem Gemach, in dem die Damen sich mit den Näherinnen besprachen. Dichtauf folgte ihr Ce'Nedra, nur mit einem sehr kurzen Hemdchen bekleidet. »Es ist ein durchaus angemessenes Gewand, Cyradis!« versicherte sie ihr.
»Angemessen für Euch vielleicht, Königin von Riva«, entgegnete die Seherin, »aber solcher Prunk ist nichts für mich.«
»Ce'Nedra!« keuchte Garion erschrocken. »Du hast ja nichts an!«
»Was soll's?« fauchte sie. »Jeder hier hat schon unbekleidete Frauen gesehen. Ich will doch nur unserer mystischen jungen Freundin vernünftig zureden. Cyradis, wenn Ihr dieses Gewand nicht anzieht, werde ich sehr böse auf Euch sein – auch mit Eurem Haar müssen wir etwas tun!«
Die Seherin umarmte die zierliche Königin voll Zuneigung. »Liebe, liebe Ce'Nedra«, sagte sie weich, »Euer Herz ist größer als Euer Figürchen, und Eure Fürsorge rührt mich zutiefst. Ich fühle mich jedoch wohl in diesem einfachen Gewand. Vielleicht ändert sich mein Geschmack einmal, dann werde ich mich gerne von Euch beraten lassen.«
»Sie läßt einfach nicht mit sich reden!« rief Ce'Nedra und warf die Hände hoch. Dann stürmte sie in das Gemach zurück, aus dem die beiden gekommen waren.
»Du solltest sie ein bißchen besser füttern«, riet Beldin Garion. »Sie ist wirklich sehr mager, weißt du.«
»Mir gefällt sie, so wie sie ist«, entgegnete Garion. Er blickte Cyradis an. »Möchtet Ihr Euch zu uns setzen, heilige Seherin?«
»Wenn ihr gestattet.«
»Selbstverständlich.« Er wehrte Toth ab, als er fast instinktiv her-beieilen wollte, um seiner Gebieterin zu helfen, und führte das Mädchen zu einem bequemen Sessel.
»Ich danke Euch, Belgarion. Ihr seid so gütig, wie Ihr tapfer seid.«
Als sie lächelte, war es, als ginge die Sonne auf. Sie hob eine Hand zu ihrem Haar. »Sieht es wahrlich so unschön aus?« fragte sie.
»Es ist völlig in Ordnung, Cyradis«, versicherte er ihr. »Ce'Nedra übertreibt manchmal, und sie ist geradezu besessen davon, andere umzukrempeln – mich, gewöhnlich.«
»Und stören Euch ihre Bemühungen, Belgarion?«
»Ich glaube nicht. Wahrscheinlich würde es mir sogar fehlen, wenn sie damit aufhörte.«
»Ihr steckt in der Falle der Liebe, König Belgarion. Zwar seid Ihr ein mächtiger Zauberer, aber mir deucht, der Zauber Eurer niedli-chen Königin ist noch viel mächtiger, denn sie hat Euch fest in ihrer kleinen Hand.«
»Das mag stimmen, aber es macht mir nicht wirklich etwas aus.«
»Das ist ja unerträglich. Wenn ihr so weitermacht, muß ich mich noch übergeben«, knurrte Beldin.
Da kehrte Silk zurück.
»Nun?« Belgarath blickte ihm fragend entgegen.
»Naradas ist Euch in der Bibliothek zuvorgekommen. Ich bin dort hin, und der Mann, der zuständig war…«
»Bibliothekar«, verbesserte ihn Belgarath abwesend.
»Wie auch immer. Er erzählte, daß Naradas gleich nach seiner Ankunft die ganze Bibliothek durchstöbert hat.«
»Das ist es dann also.« Belgarath nickte. »Zandramas ist gar nicht selbst auf der Insel. Sie hat Naradas geschickt, damit er sich für sie umsieht. Sucht er noch?«
»Offenbar nicht.«
»Das bedeutet, daß er die Karte gefunden hat.«
»Und sie wahrscheinlich vernichtet hat, um zu verhindern, daß wir sie zu Gesicht bekommen«, fügte Beldin hinzu.
»Nein, liebenswürdiger Beldin«, versicherte ihm Cyradis. »Die
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