Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
gelassen, und als sie wieder auf die Lichtung zurückeilte, zuckte sie erschrocken zusammen: Wohin waren Gabin und die anderen verschwunden?
Sie folgte den Spuren im Schnee den Pfad hinab, den sie die Männer und Grete zuletzt hatte entlanglaufen sehen. Wenig später erreichte sie den Hauptweg. Eine dunkle, von Viehwagen festgefahrene und von Füßen zertretene Schmutzspur, die nicht darauf schließen ließ, in welche Richtung die Suchenden weitergegangen waren. Ihrem Bauchgefühl folgend, bog sie nach links ab, weg vom Schloss und weg vom Dorf.
Angespannt suchte Catheline mit ihrem Blick die Umgebung ab. Waren Gabin und seine Weggefährten dort hinten, wo der Wald besonders dicht und unwegsam wurde? Dort, wo der Baum der Feen sich verbarg? Um den viele Bewohner des Dorfes im Sommer tanzten, den sie mit Blüten schmückten, um Morgana, der Fee aller Feen, zu huldigen? Das würde Gabin ähnlich sehen, so könnte er später sagen, sie hätten jeden Winkel durchsucht. Ja, sie konnte es sich lebhaft vorstellen, wie der dürre Tagelöhner später seinen Leib zu voller Größe aufrichten und sich damit in den Vordergrund spielen würde, dasser selbst um Morganas Hilfe gebeten hatte. So war er schon als Junge gewesen: Auch wenn er Gutes tat, blieb er ein Prahlhans. Schlichtweg unausstehlich.
Ein lautes Knacken, dicht hinter ihr.
Catheline fuhr herum.
Niemand war zu sehen, nichts war mehr zu hören. Nur ihr Herz schlug mit einem Mal unerhört laut. Sie hielt den Atem an, als ein dumpfes, sattes
Geräusch sie erneut dazu brachte, sich in die entgegengesetzte Richtung umzuwenden.
Ein Stein. Fast neben ihr lag ein schwarzer Stein, der sich aus dem Schnee deutlich heraushob. Sie wusste, dass er zuvor noch nicht dort gelegen hatte. Sofort wich sie Schritt für Schritt zurück, versuchte, in die Richtung des ausgetretenen Hauptweges zurückzukehren, als sie neben sich ein Schaben und seufzenden Atem hörte. Sie schrie auf.
Im selben Moment sprang ein Mann hinter einem Baum hervor, die Kapuze des Umhangs hatte er tief ins Gesicht gezogen. Bevor der Verstand erkannte, was geschah, spürte der Bauch die Erleichterung: Avel! Es war Avel!
Er warf die Kapuze zurück. »Da habe ich dir aber einen Schrecken eingejagt, oder?«, fragte er vergnügt.
Ja, das konnte Catheline nicht leugnen, er hatte sie erschreckt und zwar gehörig. Aber seit wann war sie so schreckhaft?
»Gabin und die anderen sind auch vorbeigekommen, da hinten sind sie lang. Zum Baum der Feen sind sie gelaufen. Aber ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich hier bin. Das ist ein Geheimnis, weißt du?«
»Ein Geheimnis? Das ist ja schön, Avel. Aber ich muss mich sputen, um die anderen noch einzuholen.«
»Darf ich dir mein Geheimnis zeigen?« Avels Tonfall hatte sich verändert. Das Sonnige, das Unbekümmerte fehlte mit einem Schlag. Er sprang ihr in den Weg, breitete die Arme ausund überragte sie um gut einen Kopf. »Bitte, darf ich es dir verraten?«
Unsicher sah Catheline in die Richtung, in die Avel wies. Würde sie Gabin noch einholen können? Dann schaute sie zu Avel auf, dessen Blick herzerwärmend war. Der dem eines verspielten Hundes ähnelte und ein wenig unterwürfig wirkte. Sie lachte, schüttelte den Kopf, und Avel wusste sofort, dass er seinen Willen durchgesetzt hatte.
Er machte sich umgehend auf den Weg, schlug sich durch mehrere Büsche, kletterte über kleinere Felsvorsprünge hinweg und blieb hin und wieder stehen, um sich zu vergewissern, dass Catheline ihm folgte. Kurz darauf bog er das dichte Geäst eines Busches beiseite und winkte aufgeregt. Ein Felsspalt tat sich vor ihnen auf.
»Du hast hier eine Höhle entdeckt? Bisher ging ich immer davon aus, dass ich jeden Winkel um Saint Mourelles kenne.«
Vielleicht hat Raymond sich hier versteckt und lässt sich von Avel versorgen, durchfuhr es Catheline. Denkbar war bei einem Jungen, der just zum Mann wurde, und einem Mann, der stets Junge geblieben war, alles.
Avel beugte sich vor und schob sich durch den Felsspalt. Catheline zögerte nicht und folgte ihm. Sie musste nur zwei Schritte machen, dann öffnete sich das Gestein zu einer Höhle, die es in ihrer Mitte sogar erlaubte, aufrecht zu stehen. Oberhalb war eine kleine Öffnung auszumachen, durch die Licht drang, sodass Catheline augenblicklich erkennen konnte, dass Avel sich hier allein aufhielt. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, und enttäuscht wischte sie die in ihr aufgeflackerte Hoffnung beiseite.
Gemütlich wirkte dieser Ort, Avel
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