Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
Sie trug, wie viele Witwen es neuerdings vorzogen, schwarze Trauerkleidung. Unter der Haube schob sich seitlich ein geflochtener Zopf hervor. Rötlich schimmerndes Haar, das einen hübschen Kontrast zum dunklen Kopfputz bildete. Eine schöne Frau, bemerkte er, die der Schwester aber nicht das Wasser reichen konnte. Obwohl die beiden einander ähnelten, war alles an Bérénice intensiver: das Haar rötlicher, die Haut heller, die Sommersprossen kecker.
Lange bevor Bérénice zur Baronin de Troyenne geworden war, hatte er sie schon in Paris bewundert. In regelmäßigen Abständen war ihre Mutter, stets die beiden Töchter im Schlepptau, im Kontor seines Vaters erschienen. Berühmt dafür, die edelsten Stoffe des Landes anzubieten, hatte der Vater ihre Aufmerksamkeit so manchen Nachmittag in Anspruch genommen. Gelangweilt hatten die beiden Mädchen herumgesessen, und schon damals hatte sich Julien an Bérénices Anblick nicht sattsehen können. Obwohl sie mindestens vier oder fünf Jahre älter sein musste als er, war sie ihm stets wie eine Madonna vorgekommen. Dass sie eine Frau aus Fleisch und Blut war, hatte er bei ihrem Wiedersehen in Nantes bemerkt. Ein wenig belustigt hatte Bérénice gewirkt, als sie den ehemals so verschämten Sohn des Tuchhändlers nun in Brokat und Seide im Dienste des Bischofs wiedererkannte. Doch auch ein wenig Anerkennung, gar Wohlwollen glaubte er in ihrem Blick ausgemacht zu haben.
»Oh, Magister Lacante, welche Überraschung, Euch hier anzutreffen«, unterbrach die Schwester seine Erinnerungen. »Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? War es im September zu Michaelis in Nantes?«
Er begrüßte die Frau und nickte freundlich, obwohl er wusste, dass er das letzte Mal vor wenigen Wochen im Schloss derer von Troyenne gewesen war. Auch bei dieser Begegnung hatte der Baron eines seiner Anwesen versetzt. Julien blickte zu Bérénice hinüber. Er nahm an, dass auch sie sich erinnerte, zu welcher Gelegenheit sie einander zuletzt begegnet waren, wann er den Ausverkauf ihres Hab und Gutes vorangetrieben hatte. Sicher hatte sie nicht vergessen, dass er es war, der Vertrag um Vertrag schloss, dass er die Bedingungen aushandelte und die dreisten Preisvorschläge des Bischofs durchzusetzen verstand. Nach jeder Vertragsunterzeichnung hatte er sich gewünscht,ihr sagen zu können, wie leid es ihm tat, dass diese Aufgabe ihm zufiel. Doch nie hatte sich die Gelegenheit ergeben, und Julien war unsicher, ob er den Mut gefunden hätte, sich ihr gegenüber zu äußern.
Es war gut, dass sie auch heute nicht hatte miterleben müssen, wie ihr Mann mit Schweißtropfen auf der Stirn und in den Haaren seines Bartes das Papier unterzeichnet hatte. Der Baron hatte schon gewusst, warum er darauf bestanden hatte, dass das Treffen ohne Begleitung stattfand. Keine weiteren Schreiber, Winkeladvokaten oder sonstigen Lakaien hatte er gefordert.
»Was führt Euch bei diesem widrigen Wetter zu uns?«, vernahm er die Stimme der Schwester.
»Dieses und jenes, meine Beste.«
»Männer und ihre Geschäfte«, lachte sie auf, während Bérénices Miene unbestimmt blieb. War das Neugier in ihren Augen? Hatte sie gerade den Blick an ihm hinab- und wieder hinaufwandern lassen?
Oder hatte er zu viel Wein getrunken? Nein, er hatte gar keinen Wein getrunken. Auf dem Tisch hatte eine Karaffe Weißer gestanden, aus der sich der Baron Glas um Glas eingeschenkt hatte, ohne aber seinem Gast einen Schluck anzubieten. Mit zitternder Feder hatte der Mann den Vertrag unterschrieben. Das Wohlgefühl, das sich bei Julien einstellte, sobald er eine Aufgabe zu Ende brachte, hatte sich auch bei diesem Grundstücksankauf nicht eingestellt. Stattdessen hatte er die Muster der Glasfenster betrachtet und sich gefragt, wo sich die Frau seines Gegenübers gerade aufhielt.
»Herzog Johann lässt Euch ausrichten, dass er ebenfalls an dem Anwesen an der Loire, Saint Millieux, interessiert ist«, hatte er dem Baron zum Abschied ausgerichtet und ergänzt: »Ein wunderschöner Landstrich, den er von Kindesbeinen anzu schätzen weiß. Für den Fall, dass Ihr Euch irgendwann entschließt, auch dieses zum Verkauf anzubieten, würde er Euch einen guten Preis nennen.«
Der Blick, mit dem der Baron ihn bedacht hatte, war die Vorankündigung dessen gewesen, was als Antwort gefolgt war: »Ihr seid neu beim Bischof, Ihr kennt aber seine Methoden sicher längst. Gemeinsam mit dem Herzog bereichert er sich an mir, sagen wir, auf rechtlich gelegentlich
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