Sehet die Sünder: Historischer Roman (German Edition)
ruiniert.«
»Es tut mir leid, ich war unachtsam«, sagte Julien mit fester Stimme, ohne sie anzusehen.
Bérénice zog die Decke bis an ihr Kinn hinauf und genoss die Wärme. Die oberen Fensterläden hatte sie nicht geschlossen, so konnte sie den Mond durch die Scheiben in ihr Gemach schimmern sehen.
Julien. Sie seufzte. Noch heute rollte eine Welle der Rührung durch ihren Bauch, wenn sie an diesen Nachmittag im Kontordes Tuchhändlers dachte. Julien hatte den Zorn seines Vaters auf sich gezogen, um ihr Ungemach und Vorhaltungen zu ersparen.
In der Dunkelheit erschien sein Bild vor ihren Augen. Er war damals ein guter Mensch, und er ist es noch heute. Stets so ruhig und zurückgenommen. Das schlechte Gewissen steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, wenn er erscheint, um Amédé erneut einen Kaufvertrag unterzeichnen zu lassen. Ich muss ihn morgen anschreiben und fragen, ob all das, was Schwager Ludwig und meine Schwester berichten, den Tatsachen entspricht. Er wird mir Auskunft erteilen. Doch wie sollte sie den Brief beginnen? Wie sprach sie einen Mann an, den sie seit ihrer Jugend kannte und der sich damals schützend vor sie gestellt hatte? Den sie Jahre nicht gesehen hatte und der noch heute ein wenig verlegen wurde, wenn er sie sah. Ein Mann, der ihr gefiel und der inzwischen dabei war, als Notar des Bischofs die Ländereien ihres Gatten aufzukaufen?
Sie seufzte ob der verfahrenen Situation und drehte sich auf die Seite. Noch einmal sah sie zum Mond hinauf.
Ich werde ihn in der Anrede des Briefes mit Julien ansprechen, dachte sie und fühlte, dass dieser Gedanke stimmig war. Sie schloss die Augen und lächelte.
Saint Mourelles
D er heilige Michael. Ihm war die Kapelle seitlich der Kirche geweiht worden. Ihm, der die Seelen der Verstorbenen ins Paradies geleitete, der sie auf dem Weg dorthin vor bösen Geistern schützte. Eigentlich ein schöner Ort, ein Ort der Stille und des Gedenkens an die Vorangegangenen. Heutejedoch war es ein Ort des Entsetzens. Ein neuer Schauplatz der Nachtmahr, die abermals mit Cathelines Auftauchen begonnen hatte.
Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, selbst die Zähne schlugen aufeinander. Ein Klappern, in das sich ihr Atem, der schnell und hart ging, seltsam passend einfügte. Der Blick flackerte, sprang zwischen Babettes Leiche und unbestimmten Punkten der Kapelle hin und her. Abrupt sprang sie auf und öffnete das kleine Fenster. »Damit ihre Seele entweichen kann«, flüsterte Catheline und ging dann wieder in die Hocke.
»Wie sollen wir das den anderen beibringen?«, fragte Martin, dem der Schweiß von der Stirn in seine buschigen Augenbrauen tropfte. Er sprach aus, was auch Mathis umtrieb. Die Angst zerfraß inzwischen jeden, machte schweigsam und – was vielleicht noch schlimmer war – einsam. Schaffte Abstand untereinander, der trotz der Enge des Dorfes Gräben schuf, die zunehmend unüberwindlich wurden. Auch die Ansprache des Pfarrers bei der letzten Messe hatte daran nichts geändert.
Nochmals unterbrach Martin das Schweigen. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte er. »Ysa braucht mich zu Hause, ihre Brüste sind heiß und geschwollen. Der Kleine trinkt nicht richtig …« Er stockte und schien zu ahnen, dass niemand das so genau wissen wollte.
Pfarrer Jeunet nickte nur, ohne den Blick von der Frau zu nehmen, die vor ihm auf einem aus Brettern und Böcken aufgestellten Tisch lag. »Danke, dass du Mathis geholfen hast, Babette … sie hierherzubringen. Geh nach Hause, deine Familie braucht dich, ihr habt genug Kummer zu ertragen. Aber bitte schweig, bis ich die Glocke läute, um alle zusammenzurufen. Ich möchte meine Worte mit Bedacht wählen. Gib mir die Zeit, diese zu finden.«
»Gern, Vater Jeunet«, sagte Martin, bevor er behutsam dieTür schloss. Zurück blieb sein Geruch, ein bitterer Gestank aus Schweiß und Angst. Manchmal erfasst die Nase mehr als Auge und Ohr zusammen, bemerkte Mathis und atmete flacher.
Pfarrer Jeunet seufzte und trat einen Schritt vor. »Die arme Seele ist erwürgt worden?«
Wortlos wies Mathis auf die Flecken am Hals.
»Wo habt ihr sie gefunden?«
»Catheline hat sie während eines Spazierganges gefunden. In einer Senke, die Martins Hanffeld begrenzt, lag Babette. Sie war von Schnee bedeckt, aber die einsetzende Schmelze hat ein Stück ihres Kittels freigelegt«, antwortete Mathis an ihrer statt.
»Babette«, Pfarrer Jeunet beugte sich zu Catheline herab, »das ist eine Freundin deiner Schwester Jola,
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