Sehnsucht der Unschuldigen
sie noch hier herum und suchte vergeblich Schlaf, wenn das, was sie brauchte, so nahe war?
Caroline sprang jäh vom Fensterbrett herunter. Auf dem Weg zur Loggia nahm sie eine Freesie aus der Vase. Vor dem golden eingerahmten Spiegel blieb sie kurz stehen und strich sich die Haare gerade. Gerade wollte sie in die schwüle Nacht hinaus treten, da ging die Tür wie von selbst auf. Ihr gegenüber stand Tucker. In der Hand hatte er eine Nelke.
Ihr Herz machte einen Satz, und sie wich zurück. »Oh, hast du mich erschreckt!«
»Ich habe Licht bei dir gesehen. Da habe ich mir gedacht, du kannst sicher genausowenig schlafen wie ich.«
»Stimmt.« Sie sah auf die Freesie in ihrer Hand hinunter. »Ich war gerade auf dem Weg zu dir.«
Tuckers Augen leuchteten in einem tiefen Gold. Er nahm Carolines Blume entgegen und gab ihr die seine. »Als wäre es Gedankenübertragung! Gerade habe ich mir überlegt, daß du wegen deiner Schicklichkeit wohl nie zu mir kommen würdest, und habe mich auf den Weg zu dir gemacht…« Er ließ die Finger durch ihre Haare gleiten. Dann hob er sacht ihr Kinn an. Auf ihrer kühlen Haut fühlte seine Hand sich heiß und fest an. »›Die Sehnsucht kennt die Ruhe nicht‹.«
Sie schmiegte sich an ihn. »Ich will keine Ruhe.«
»Dann gebe ich dir auch keine.« Er zog sie sanft ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Ihr erster Kuß war ein gieriger Austausch, als hätten sie seit Jahren und nicht erst wenige Stunden aufeinander verzichten müssen. Doch das Bedürfnis nacheinander war so mächtig wie eine Droge. Von gemurmelten Worten und Stöhnen begleitet, sogen sie aneinander, bis die Lust sich kaum mehr ertragen ließ.
Keuchend drückte Caroline schließlich ihre Lippen an Tuckers Kehle und taumelte mit ihm zum Bett. Er ergriff ihre Hand, als sie das Licht ausknipsen wollte.
»Wir brauchen keine Dunkelheit.« Lächelnd deckte er ihren Körper mit dem seinen zu.
Während Caroline und Tucker sich im Schein der Lampe liebten, der aus dem Norden zurückgekehrte Teddy in der Leichenhalle die Autopsie an Darleen durchführte und der Rest der Bevölkerung von Innocence unruhig schlief, ging es in McGreedys Bar heiß her. Ein langes Wochenende stand bevor, an dessen Ende der Unabhängigkeitstag mit einem Volksfest und einem Feuerwerk gefeiert werden sollte. Bedenken waren erhoben worden. Feierlichkeiten seien angesichts der Mordfälle nicht angebracht, hatte es geheißen, doch der Stadtrat hatte sich letztendlich doch für das Volksfest entschieden. Man wollte sich von einem Geistesgestörten die über zweihundert Jahre alte Tradition nicht kaputtmachen lassen. So zierten also Girlanden die ganze Stadt, und vor allem die Kinder freuten sich auf das Volksfest.
In McGreedys Bar nahmen einige Gäste das Fest schon vorweg. Mochten der Alkohol in Strömen fließen und neben Lachsalven auch ein paar hitzige Worte fallen, McGreedy kannte seine Pappenheimer. Sollte es zu Handgreiflichkeiten kommen, so hatte er hinter dem Tresen ein Gewehr lehnen, mit dessen Hilfe er erfahrungsgemäß jeden Streit schnell schlichtete.
Dwayne, der seit Stunden still vor sich hin trank, bereitete ihm diesmal kaum Kummer. Er wurde ja nur bei Whiskey aggressiv. Heute blieb er beim Bier und wirkte eher unglücklich als betrunken.
An einem anderen Tisch ging es schon wilder zu. Billy T.
nahm einen kräftigen Schluck vom Whiskey des Hauses. Ihn ärgerte, daß McGreedy ihn mit Wasser verdünnte, aber diesmal plagten ihn andere Sorgen. Ganz Innocence wußte von seinem Techtelmechtel mit Darleen. Und ausgerechnet sie war ermordet worden. Seine Ehre stand auf dem Spiel.
Mit sechs Kumpanen, darunter sein Bruder John Thomas, ereiferte er sich mit jedem Glas mehr. »Da ist doch was oberfaul!« schimpfte er zum wiederholten Male. »Einen Bullen aus dem Norden holen sie und verhören uns einen nach dem anderen, und in der Zeit schlitzt ein Verrückter nach Belieben unsere Frauen auf!«
Die Runde murmelte beifällig. Zigaretten wurden angezündet, Gläser geleert und Flüche ausgestoßen.
»Ja, sollen wir denn zuschauen und die Bullen weiterpfuschen lassen?« fuhr Billy T. fort. »Danach, wenn es darum geht, die Leichen zu finden, da können sie uns gut gebrauchen. Aber daß wir uns und unsere Frauen schützen wollen, das ist ihnen piepegal.«
»Wahrscheinlich hat er sie erst vergewaltigt und dann aufgeschlitzt«, murmelte Will Shivers in sein Glas hinein.
Während die anderen scharfe Sachen tranken, begnügte er sich mit
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