Sehnsucht FC Bayern
Seitenaus. Eine völlig belanglose Spielszene, aber es war so weit – der Rekord! Wildfremde Menschen gratulierten sich, Partystimmung auf den Rängen, glücklich, wer dabei gewesen. Herrlich! Auch so kann man mit der eigenen Unzulänglichkeit umgehen.
Andererseits, und das muss ich der Vollständigkeit halber auch erwähnen, bietet der Fußball gerade auf beruflicher Ebene einen willkommenen Einstieg zum Small-Talk. Religiöse und politische Themen sind tabu. Für private Themen ist es noch zu früh, und stets mit dem aktuellen Wetter das Gespräch zu eröffnen, wird auf Dauer langweilig. Manche Kollegen taten sich schwer, mit mir ins Gespräch zu kommen, und fanden nur über den Fußball einen kommunikativen Anknüpfungspunkt. Besser als nichts. Einerseits ärgert mich das, weil es zugegebenermaßen doch sehr monothematisch ist. Andererseits weiß ich, dass sich noch sehr viele ehemalige Mitschüler, längst pensionierte Kollegen oder frühere Nachbarn an mich erinnern, weil sie mich als engagierten Bayern-Fan erlebt haben. Ob ich in allen Fällen wirklich möchte, dass man sich nur auf diese Weise an mich erinnert, sei mal dahingestellt.
Die Entwicklung in der Fernsehlandschaft schritt unaufhörlich fort. Jahrzehntealte Gesetzmäßigkeiten der ARD-Sportschau, die durch Ernst (»Klappscheitel«) Huberty personifiziert wurden, wirkten plötzlich wie eine archaische Epoche. Premiere revolutionierte die Fernsehlandschaft vollends. Sich einfach mal eben so ein ganz gewöhnliches Bundesligaspiel des FC Bayern live und in voller Länge im TV anzuschauen, empfand ich als Luxus. Bei einem Mitglied meines Fanclubs machte ich in dessen Wohnzimmer davon regen Gebrauch. Die Zeiten, in denen man insgeheim den anderen deutschen Mannschaften im Europacup alles Schlechte wünschen musste, um die Chancen auf ein Live-Spiel der eigenen Mannschaft im Fernsehen zu erhöhen, waren ja noch gar nicht mal so lange her. Tatsächlich hatten andere Vereine, die parallel ihre Heimspiele austrugen, eine Art Veto-Recht.
Was meine Spielbesuche in dieser Saison betrifft, so machte ich neue Erfahrungen mit blinder Leidenschaft und Hass. Erstmals erklomm ich den Betzenberg in Kaiserslautern. Die Bayern hatten dort selten gut ausgesehen. Das Stadion erhebt sich wie eine Trutzburg weithin sichtbar über der Stadt. Sehr imponierend, zweifellos. Sprach ich eben noch von der Leichtigkeit im Umgang mit der eigenen Fußball-Leidenschaft, erlebte ich beim 1. FC Kaiserslautern das genaue Gegenteil. Wie dort selbst klarste Entscheidungen des Schiedsrichters gegen die eigene Mannschaft als Generalangriff auf 500 Jahre Pfälzer Geschichte empfunden wurden, wirkte auf mich nahezu beängstigend. Ein 08/15-Foul an Spielern des FCK bot Gelegenheit für interessante Studien. Dem kollektiven Aufspringen der Zuschauer folgten von abfälligen Handbewegungen bis zum Stinkefinger sämtliche Varianten an unschönen Gesten, die mit übelsten Flüchen aus der Gossensprache garniert wurden. Für mich war das keine Leidenschaft mehr. Für mich war das teilweise blanker Hass. Mag sein, dass sich so mancher Ultra in München gern ein ähnliches Publikumsverhalten wünscht. Als nachahmenswert empfinde ich es nicht. Permanent gegen Schiedsrichter und Gästeteam zu hetzen oder aber die eigene Mannschaft anzufeuern, mag beides der Hoffnung dienen, das Spiel positiv zu beeinflussen. Sie sind dennoch für mich zweierlei Dinge. Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus halte ich beleidigende Äußerungen gegenüber dem Gegner für destruktiv. Mit einer Anti-Haltung in ein Spiel zu gehen oder dieses zu begleiten, hat sich bei mir noch nie ausgezahlt. Wenn ich mir im Stadion ein Spiel anschauen wollte, nur um beispielsweise einen Bayern-Konkurrenten oder eine besonders unsympathische Mannschaft verlieren zu sehen, dann ging das immer schief.
Ähnlich brisant erlebte ich zum wiederholten Mal ein Auswärtsspiel im benachbarten Holland, gegen den PSV Eindhoven. Die Nervosität der Ordnungskräfte gipfelte in Sicherheitsmaßnahmen, die hervorragenden Anschauungsunterricht für länderübergreifende Polizeistrategien lieferten. Nicht dass ich missverstanden werde, Prävention muss sein. Aber beim dutzendfachen Anblick holländischer Beamter in Ganzkörper-Rüstung stellt sich unwillkürlich die Frage, ob ich vor anderen oder andere vor mir geschützt werden. Ein wenig kriminell fühlt man sich da schon.
Dass ich dem Spiel überhaupt beiwohnen konnte, war ohnehin lange Zeit fraglich.
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