Sehnsucht FC Bayern
bereits vergessen, wie wir 1986 und 2000 selber noch am letzten Tag einen derartigen Punktevorsprung aufgeholt hatten? Ich bin da abergläubisch. Und wenn ich an Bayern-Fans etwas nicht mag, dann ist es siegestrunkene Zuversicht, noch bevor der ultimative Schlusspfiff zu hören ist. Mit diesem Bewusstsein fuhr ich am letzten Spieltag mit meinem Fanclub nach Hamburg. Die meisten Mitreisenden empfanden Vorfreude auf die zum Greifen nahe Meisterschaft. Ich hatte Verlustängste. Und ich wurde zunächst bestätigt. Leider. Vielleicht ist das einer der signifikanten Unterschiede zwischen Bayern-Fans und Anhängern anderer Mannschaften. Beide freuen sich, bei einem Titelgewinn etwas erreicht zu haben. Der Bayern-Fan aber nicht zuletzt auch aus Erleichterung, weil sein Team wieder einmal den Erwartungen gerecht wurde und ihm Häme erspart bleibt.
Zur Erinnerung: Schalke 04 spielte sein letztes Spiel im Parkstadion gegen Unterhaching und geriet mehrfach in Rückstand. In geballter Form wurde uns Bayern-Fans mit jedem durch die HSV-Fans euphorisch gefeierten Treffer der Schalker vor Augen geführt, wem man die Meisterschaft nun wirklich nicht gönnte. Dieser Hamburger Jubel über die Tore der Königsblauen wiederholte sich fünfmal. Als zum sechsten Mal Jubel aufbrandete, war die 90. Minute angebrochen, es stand 1:0 für den HSV und Schalke 04 so gut wie als Meister fest. Meine Magensäure erreichte den Gaumen, ich war kurz davor, mich zu übergeben. Nicht nur die Bratwurst vor dem Spiel kam mir hoch, auch die Erinnerungen an Barcelona 1999. Die folgenden drei Minuten bis zu Patrick Anderssons eigentlich unmöglichem Freistoßtor zum 1:1 habe ich wie in Trance erlebt. Mir wurde schummrig, mir wurde schwindelig. Ich war so fertig, dass ich das Bayern-Tor, das die Meisterschaft bedeutete, völlig gegenteilig zu Zicklers Siegtreffer eine Woche zuvor erlebte. Eine Mischung aus Ungläubigkeit und Erschöpfung. Sicherlich auch erleichtert, aber bei all den Reisestrapazen und nervlicher Anspannung dennoch unfähig, den inneren Schalter so schnell wieder auf »Jubel« umzulegen. So etwas dauert bei mir ein paar Minuten.
Abends im Hotel musste ich mir immer wieder die Fernsehbilder aus dem Gelsenkirchener Stadion anschauen. Aus Schadenfreude? Nach der Gehirnerschütterung, die ich dort in der Saison 1987/88 erlitt, hätte ich dazu wahrlich ausreichend Grund gehabt. Nein, ich empfand mit den Schalker Fans so etwas wie Mitleid. Das ging nicht so weit, dass ich ihnen unsere Meisterschaft gegönnt hätte. Aber mir wurde erneut bewusst, wie privilegiert wir Bayern-Fans sind. Hier die Schalker, denen es auch nach 43 Jahren und ausgerechnet im letzten Spiel im Parkstadion wieder nicht vergönnt war. Dort der FC Bayern mit seiner elften Meisterschaft in den letzten 20 Jahren. Der Gedanke an die Häme, die uns im umgekehrten Fall an diesem Nachmittag entgegengeschlagen hätte und bei den zunächst jubelnden HSV-Fans ja auch sichtbar war, stoppte weiteres Mitgefühl.
Blieb Zeit zum Durchschnaufen? Nein. Denn vier Tage später sollte in Mailand das Endspiel in der Champions League angepfiffen werden. Da lag die Heimat in Köln ja fast auf dem Weg. Sonntagabend zurück aus Hamburg, 48 Stunden später bereits wieder Abfahrt nach Mailand. Zu allem Überfluss meldete sich der Westdeutsche Rundfunk telefonisch bei mir. Immerhin war die Telefonnummer im Internet leicht zu finden. Der WDR bat am Treffpunkt des Fanclubs, kurz vor Antritt der Endspiel-Reise, um ein Radiointerview. Das konnte er haben. Es waren die erwarteten, wenig originellen Fragen nach Vorfreude auf ein gutes Spiel – Spannung, die weite Reise und so weiter. Ich war jedoch grimmig und blaffte die unschuldige Reporterin unverhältnismäßig an: »Glauben Sie bloß nicht, dass ich aus Spaß nach Mailand fahre. Ich habe Rotterdam 1982 heulend vor dem Fernseher und Wien 1987 sowie Barcelona 1999 jeweils live im Stadion verfolgt. Ich habe einen Auftrag, verstehen Sie? Nennen Sie es von mir aus eine Mission!«
Es klingt verrückt, aber mit dieser Einstellung fuhr ich tatsächlich nach Mailand. Von Freude keine Spur. Hier war sie wieder, die merkwürdige Angst, etwas zu verlieren, was einem noch gar nicht gehört – oder aber zumindest die drohende neue Wunde in meiner Karriere als Fan dieses Vereins. Entsprechend schweigsam verlief für mich die nächtliche Anreise im kleinen PKW-Konvoi. Das Spiel durfte einfach nicht verloren werden. Genauso freudlos ließ ich die Stunden in der
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