Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
ob er zur selben Zeit auch in der Stadt zu tun hat. Von deiner Mutter ist seit der Karte zu meinem Geburtstag keine Nachricht mehr gekommen.«
»Wirst du nach Zehlendorf fahren?«
Malu entging der ängstliche Unterton in Constanzes Stimme nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe in Riga genug zu tun. Mutter lebt dort in einem Stift. Es geht ihr nicht gut. Ich werde sie besuchen. Für Zehlendorf fehlt mir die Zeit.«
Malu hatte sich lange gefragt, ob sie ihre Mutter wirklich sehen wollte, und sie hatte keine eindeutige Antwort darauf gefunden. Im Grunde wusste sie gar nicht, wie es war, eine richtige Mutter zu haben. Da war nur diese Sehnsucht danach und die dumme Hoffnung, vielleicht jetzt doch noch einen Zugang zu ihr zu finden. Doch zugleich war sich Malu sicher, dass sich ihre Mutter nicht würde geändert haben. Aber einmal noch wollte sie es versuchen, einmal noch ihre Pflicht als Tochter erfüllen.
Wieder nickte Constanze, dann schlang sie die Arme noch fester um ihren zitternden Körper. »Man kann nicht mehr zurück, nicht wahr?«, fragte sie. »Orte, die man verlassen hat, werden zu Unorten. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Selbst wenn man es noch so sehr wünscht. Es gibt keinen Weg zurück.«
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Riga, 1923
H atte Riga sich verändert? Oder sie selbst? Malu wusste es nicht, doch die Stadt kam ihr mit einem Mal fremd vor. Ganz so, als wäre sie noch nie hier gewesen.
Die Zugfahrt war anstrengend gewesen. In ihrem Abteil hatte eine Mutter mit zwei Kindern gesessen und beinahe die ganze Zugfahrt über geweint. Die Kinder hatten zunächst starr und stumm dagesessen, waren aber schon bald quengelig geworden und hatten sich im Kampf um die Aufmerksamkeit der Mutter überboten.
Malu spürte den fehlenden Schlaf in jedem einzelnen Knochen. Ihre Augen brannten.
Das Gefühl der Fremdheit hatte schon auf dem Bahnsteig begonnen, als sie das Schild mit der Aufschrift Laipni l ū dzam gesehen hatte. »Herzlich willkommen.« Die Heimat hieß sie willkommen. Und doch konnte Malu nicht aufhören, sich beständig nach allen Seiten umzublicken, als sähe sie all das hier zum ersten Mal. Früher war sie in jedem Jahr zwei Mal in der Stadt gewesen. Einmal im Frühling, um Sommersachen einzukaufen, und einmal im Herbst für die Winterkleidung. Später war sie manchmal auch allein nach Riga gefahren, um sich in Ruhe Stoffe aussuchen zu können.
Sie trat aus dem Bahnhofsgebäude auf die Marijas iela, die Marienstraße. Sie war eine der breitesten Straßen Rigas, aber damals waren bei Weitem nicht so viele Automobile auf ihr gefahren. In Malus Erinnerung war die Marijas iela vollgestopft mit Bauernfuhrwerken, die Waren vom Bahnhof holten oder brachten. Eselskarren hatten Milch und Eier geladen, und manchmal hatte auch eine halbe Schweinsseite auf einem Wagen gelegen, bloß spärlich mit einer Segeltuchplane bedeckt.
Malu reiste mit wenig Gepäck. Sie trug nur einen mittleren Koffer, denn sie wollte nicht lange bleiben. Außerdem gab es niemanden, dem sie etwas hatte mitbringen wollen.
Sie überquerte die Straße, den Kofferträger hinter sich, lief am Ufer des Kanals entlang und am Opernhaus vorüber. Und dann war sie schon mitten in der Altstadt.
Malu stieg im Hotel Esplanade ab, das gegenüber dem gleichnamigen Park lag. Ihr Zimmer war klein, aber sauber und bot einen wundervollen Blick auf die Altstadt. Lange stand Malu am Fenster, während das Zimmermädchen ihren Koffer ausräumte und die Sachen in den Schrank hängte. Sie sah über die Stadt und ließ ihre Erinnerungen schweifen. In der Ferne erblickte sie das Stift, in dem ihre Mutter untergebracht war. Ein Seufzer stieg aus ihrer Kehle. Mutter, dachte sie. Was für ein seltsames Wort! Nie war Cäcilie ihr eine Mutter gewesen, und dennoch fühlte Malu sich ihr verpflichtet.
Sie gab dem Zimmermädchen ein Trinkgeld, machte sich ein wenig frisch und ging dann sogleich ins Bett. Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, schlief sie ein.
Am nächsten Morgen suchte sie einige Posamentengeschäfte in der Altstadt auf. Als sie das erste betrat und die altvertrauten Stickmuster sah, die besetzten Borten, packte sie erstmals das Heimweh. Sie hielt ein Stück Spitze in der Hand, als wäre es aus purem Gold. Als niemand hinsah, schmiegte sie sogar ihre Wange an den Stoff, fuhr mit den Fingerspitzen die komplizierten Muster nach, roch daran, und mit einem Schlag fühlte sie sich wieder zu Hause. Ja. Hier gehörte sie hin. Zu diesem
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