Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
dann schloss sie endlich die Tür auf.
Stickige Luft kam ihr entgegen. Es war, als hätte seit ihrer Abfahrt niemand mehr gelüftet. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr auf der Ablage. Der Fußboden fühlte sich klebrig an, der Tisch war mit Krümeln und Flecken übersät. Was war geschehen? Warum war die Zugehfrau nicht gekommen?
Malu trat ans Fenster, berührte vorsichtig das welke Blatt einer Pflanze, dann riss sie beide Fensterflügel auf und atmete die kühle Morgenluft ein.
Soll ich Constanze wecken?, fragte sie sich und schüttelte gleich darauf den Kopf. Wer wusste, wann sie nach Hause gekommen war. Sie musste zwar mit ihr sprechen, doch dazu sollte die Freundin ausgeruht und wach sein.
Malu betrat ihr Atelier. Auch hier roch die Luft verbraucht, auch hier musste jemand gewesen sein. Argwöhnisch betrachtete sie die Stoffballen, die in einem Regal lagen, betrachtete die Nähmaschine, die Schneiderpuppe und die Schultafel, die an der Wand hing und auf die sie ihre Entwürfe zeichnete. Dabei fiel ihr Blick auf die Stelle, an der normalerweise ihre Musterbücher lagen. Die Bücher mit ihren Stoffmustern, die sie von einem Buchbinder hatte einbinden lassen, und auch das Musterbuch mit den Entwürfen fehlten.
Das konnte doch nicht sein! Hatte sie die Bücher vor ihrer Abreise weggeräumt? Malu schüttelte sich ein wenig. Nein, das konnte nicht sein. Hastig durchstöberte sie jede Schublade, schaute in jeden Winkel, in jede Ecke, aber die Bücher blieben verschwunden.
Hilflos setzte sie sich an ihre Nähmaschine. Was sollte sie jetzt tun? Die Bücher waren ihr ganzes Kapital. Gut, die Stoffmuster könnte sie noch einmal zusammenstellen lassen. Das würde viel Zeit kosten und viel Mühe, aber sie wären wiederbeschaffbar. Aber ihre Entwürfe!
Malu spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Mit einem Mal brach alles aus ihr heraus: die Trauer um den Verlust von Janis, ihre Einsamkeit, die Angst um Constanze und der Verlust der Entwürfe. Malu weinte, wie sie seit ihrer Kindheit nicht mehr geweint hatte. Die Tränen strömten aus ihr heraus, ließen sich nicht aufhalten. Malu taumelte zu dem Sofa, auf dem die Mannequins sich zwischen zwei Kleiderproben ausruhten. Sie griff ein Kissen und drückte es sich fest an die Brust. Dann schluchzte sie ihren ganzen Kummer dort hinein und schlief ein, kaum dass die Tränen auf ihren Wangen getrocknet waren.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie erwachte, dämmerte es draußen bereits. Benommen stand sie auf und begab sich in das kleine Badezimmer. Sie wusch sich das Gesicht, fuhr sich mit nassen Händen über das Haar – und erstarrte plötzlich mitten in der Bewegung: Von nebenan war ein Stöhnen zu hören. Einen Moment später vernahm sie einen tierischen Laut, gefolgt von einem unterdrückten Aufschrei.
Hatte Constanze Besuch? Was trieb sie nur? Eigentlich hatten sie vereinbart, in ihre Wohnung keine Männerbesuche mitzubringen. Doch Constanze konnte nicht wissen, dass sie bereits zurück war.
Malu lauschte wie erstarrt. Wieder dieses Stöhnen. Nein, das war kein Liebesschrei, sondern ein Mensch in Not.
Malu trocknete sich flüchtig die Hände ab, verließ das Bad und klopfte an Constanzes Zimmertür.
Keine Antwort. Nur ein Geräusch, als wälze sich jemand im Bett, und dieses grässliche Stöhnen.
Malu riss die Tür auf. »Constanze! Um Himmels willen!«
Constanze lag auf dem Bett, hilflos, mit hochgewölbtem Leib und verdrehtem Körper. Zwischen ihren Beinen war eine gelbgrüne Flüssigkeit zu sehen, vermischt mit etwas Blut.
»Mein Gott!« Sofort eilte Malu an Constanzes Lager und befühlte ihre Stirn. Die war mit kaltem Schweiß bedeckt. »Was ist mit dir?«
Constanze blickte sie verwirrt an. »Malu … du bist zurück.«
»Was ist mit dir los?«
»Ich weiß es nicht«, stammelte Constanze. »Aber bitte hilf mir.« Dann krümmte sie sich aufheulend zusammen.
Malu sah, wie sich der aufgeblähte Leib zusammenzog und nach einer kleinen Weile wieder entspannte. »Du bekommst ein Kind«, stieß sie überrascht hervor. »Du bekommst ein Kind. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schwanger bist? Mein Gott, und wo hatte ich nur meine Augen?« Ihr Blick fiel auf eine weite Tunika, die achtlos auf dem Boden lag und die einen Babybauch gut verbergen konnte.
Constanze erwiderte nichts. Schweißüberströmt lag sie mit geschlossenen Augen in den Kissen und hechelte mit offenem Mund.
Malu, eben noch zu Tode erschrocken,
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