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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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aus der Nase schoss; dann wischte er sich die Faust an seiner Hose ab und verließ das Lokal. Seit diesem Abend lebten sie in einer offenen Feindschaft miteinander.
    Am 28. Juni 1914 geschah jedoch ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, durch das die Feindschaft zwischen Janis und Ruppert für lange Zeit unterbrochen wurde. An jenem Tag wurden in Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg, in einer Kolonne von sechs Wagen auf dem Appel-Kai entlang des Flusses Miljacka zum Rathaus von Sarajevo gefahren. Gelassen winkte der Thronfolger aus dem offenen Fond des Wagens heraus, während seine Frau angespannt wirkte. Bereits im Vorfeld des Besuches hatte es Warnungen vor Anschlägen gegeben, doch Franz Ferdinand hatte sie ignoriert. »Unter einen Glassturz«, hatte der Erzherzog verkündet, »lasse ich mich nicht stellen. In Lebensgefahr sind wir doch immer. Man muss nur auf Gott vertrauen.«
    Gegen zehn Uhr detonierte hinter dem Wagen des Erzherzogs und seiner Frau eine Bombe, die Sekundenbruchteile davor vom Verdeck des Thronfolgerautos abgeprallt war. Erzherzog Ferdinand riss seinen Arm schützend über seine Frau, und der Fahrer gab Vollgas.
    Im Rathaus angekommen, beschwerte sich Franz Ferdinand: »Herr Bürgermeister, da kommt man nun nach Sarajevo, um einen Besuch zu machen, und wird mit Bomben beworfen.« Der österreichisch-ungarische Thronfolger wurde beruhigt, die Strecke für die weitere Fahrt geändert. Unterwegs bog die Kolonne jedoch auf einer Brücke auf die alte Fahrtroute ein. Eine sofortige Umkehr wurde befohlen. Als der Fahrer des Thronfolgers den Rückwärtsgang einlegte, um der Anweisung Folge zu leisten, trat ein Mann neben das Automobil, zog eine Pistole und schoss zwei Mal. Sophie Chotek wurde von der ersten Kugel in den Unterleib getroffen und verblutete kurz darauf. Dem Erzherzog Franz Ferdinand zerriss der Schuss die Halsvene und zerfetzte seine Luftröhre.
    Einen Monat später machte Österreich mobil und erklärte Serbien am 28. Juli den Krieg, am 30. Juli folgte die russische Generalmobilmachung. Am 1. August 1914 machte auch Deutschland mobil und erklärte Russland den Krieg, am 3. August folgte die deutsche Kriegserklärung an Frankreich. Am selben Tag marschierten die ersten deutschen Truppen in Belgien ein, und nur vierundzwanzig Stunden später erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg.
    Das erste große Schlachten des 20. Jahrhunderts hatte begonnen.
    Der 28. Juni 1914 war jedoch nicht nur ein besonderes Datum für die Weltgeschichte, sondern auch für Constanze: Genau an diesem Tag heiratete sie. Der Bräutigam war natürlich nicht Ruppert, sondern ein junger Russe aus Riga, der als Lehrer arbeitete.
    Sie hatte Nikolai Anfang Mai im Park von Mitau kennengelernt, als sie mit ihren Schützlingen, deren Mutter gerade Einkäufe erledigte, dort wartete. Constanze saß mit geschlossenen Augen auf einer Bank, hielt das blasse Gesicht in die Sonne und lauschte auf die Worte ihrer Schützlinge.
    Ein Schatten fiel auf sie. Als sie die Augen öffnete, sah sie vor sich einen Mann stehen. Groß war er und hager, und die Haare verbargen nur schlecht seine abstehenden Ohren. Doch seine blaugrauen Augen schauten sie voller Bewunderung an.
    »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
    Constanze blickte zu Boden. Es schickte sich nicht, im Park mit einem fremden Mann auf einer Bank zu sitzen. Die Gutsherrin würde das auf keinen Fall tolerieren. Aber Constanze war es nicht gewohnt, einem Mann zu widersprechen oder ihm gar einen Wunsch abzuschlagen. Also nickte sie.
    Der Fremde ließ sich neben ihr nieder und stellte sich vor: »Ich heiße Nikolai Nikolajewitsch Peskow, bin gebürtiger St. Petersburger, nunmehr Hauslehrer auf Gut Rehbrücke. Ich bin beinahe dreißig Jahre alt und beseelt von dem Wunsch, eines Tages in Riga eine höhere Schule für Jungen und Mädchen zu gründen, die sich besonders in den Naturwissenschaften hervortun wollen.«
    »Oh!« Das war alles, was Constanze darauf zu erwidern wusste. Nach ein paar Momenten des Schweigens fuhr sie jedoch höflich fort: »Angenehm. Constanze Mohrmann, Hauslehrerin, gebürtig aus Zehlendorf.«
    »Von welchem Wunsch sind Sie beseelt, Fräulein Mohrmann? Oder ist diese Frage zu intim?«
    Constanze wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Wovon sollte sie denn um Himmels willen beseelt sein? Sie wollte heiraten und Kinder kriegen, das war alles. Am

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