Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
liebsten mit Ruppert, aber allmählich beschlich sie der Verdacht, dass sie darauf wohl bis zum Jüngsten Tag würde warten müssen.
Am vergangenen Samstag hatten sie sich zuletzt gesehen. Ruppert hatte sie beschlafen und sie dann mit rüden Worten nach Hause geschickt, weil er sich, wie er sagte, in ihrer Gegenwart langweilte. Und sie war leise weinend zum Pfarrhaus geschlichen und hatte dort, auf der Bank vor der Tür, ihre Mutter angetroffen.
»Setz dich zu mir«, wies die Mutter sie an und klopfte neben sich auf das Holz.
Constanze wischte sich die Tränen weg und tat, was die Mutter von ihr verlangte.
»Du solltest dich von Ruppert fernhalten. Er tut dir nicht gut, mit ihm hast du keine Zukunft. Sieh nur, wie dünn du geworden bist, wie blass. Es ist lange her, seit ich dich zuletzt lachen gehört habe.«
Constanze konnte darauf nichts erwidern und fing erneut an zu weinen.
»Du bist Mitte zwanzig, Constanze«, redete die Mutter weiter. »Es wird höchste Zeit für dich, auf eigenen Beinen zu stehen, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Du willst doch Kinder, oder?«
»Natürlich.«
»Dann such dir einen Mann, der zu dir passt.«
»Warum kann ich nicht so weitermachen wie bisher?« Constanzes Worte waren nur ein Flüstern.
»Weil du dich damit ruinierst. An einem Liebesaus sterben die wenigsten. Am jahrelangen Kummer schon.«
»Ist es wahr, dass mich die Leute im Dorf eine alte Jungfer schimpfen? Dass sie sagen, ich sähe allmählich so vertrocknet und verbittert aus wie eine, die es nie geschafft hat, einen Mann an sich zu binden?«
»Wer sagt so etwas?«
»Ruppert.« Constanzes Stimme war noch leiser geworden. »Er hat auf meinen Mund gedeutet, hat mir Falten ins Gesicht gemalt, die ich an mir noch nie gesehen habe.«
Die Mutter seufzte, dann fasste sie nach Constanzes Hand. »Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber Ruppert hat recht. Du wirkst verhärmt. Schon jetzt. Und der junge Freiherr ist schuld daran. Gib ihn auf, Constanze. Du wirst sehen, wie befreit du dich danach fühlen wirst.« Die Mutter stand auf und strich Constanze über die Wange. »Überlege es dir, bevor es zu spät ist.« Dann war sie ins Haus gegangen, und Constanze hatte mit jeder Faser ihres Verstandes gespürt, dass sie recht hatte.
Das Herz aber, das dumme Herz, hoffte noch immer.
Constanze schreckte aus ihren Erinnerungen hoch und wurde sich der Tatsache bewusst, dass neben ihr ein junger Mann saß, der noch immer auf eine Antwort von ihr wartete.
»Welcher Wunsch mich beseelt?«, erwiderte sie nun. »Darüber muss ich noch ein wenig länger nachdenken. Erzählen Sie mir lieber etwas mehr über sich.« Sie warf einen Blick zu den Kindern, die mit Gleichaltrigen Ball spielten und im Augenblick die Dienste ihrer Gourvernante nicht benötigten.
Er redete, und Constanze schwieg die meiste Zeit. Sie lächelte, wenn sie es für angebracht hielt, und nickte, wenn sie glaubte, Nikolai erwarte das von ihr.
Dann kamen die Kinder zu ihr. Das kleine Mädchen zupfte an Constanzes Ärmel und drängelte: »Ich will nach Hause, mir ist langweilig. Nie lassen mich die Großen mitspielen.«
»Ja, mein Engel, wir gehen gleich.«
Constanze erhob sich und reichte Nikolai die Hand zum Abschied. Sie hatte weniger als ein Dutzend Sätze zu ihm gesprochen.
»Darf ich Sie wiedersehen?« Seine Bitte klang drängend.
»Ja. Sehr gern«, entgegnete Constanze wohlerzogen, schrieb ihm die Adresse auf einen kleinen Zettel. »Am Mittwochnachmittag habe ich frei und den ganzen Sonntag auch.«
Dann nickte sie grüßend, nahm die beiden Kinder an die Hand und ging zum Geschäft, wo sie die Mutter der Schützlinge vermutete. Zwei Tage später, am Mittwochnachmittag, erhielt sie den ersten Besuch von Nikolai. Er brachte ihr Blumen mit, Maiglöckchen, und ein Buch von Leo Tolstoi. Sie gingen im Park des Gutes spazieren, und als die Dämmerung einsetzte, nahm Nikolai ihre Hand in seine. Beim nächsten Besuch küsste er sie zum Abschied auf die Wange, beim dritten zart auf den Mund, beim vierten zeigte er ihr Fotografien seiner Familie, beim fünften sprach er über seine zukünftigen Kinder, und am 14. Juni hielt er schließlich um ihre Hand an.
Constanze sagte Ja. Nicht, weil sie verliebt war. Nicht, weil sie verzweifelt war. Seinen Antrag nahm sie an, weil er sie darum gebeten hatte und weil sie Ruppert damit beweisen konnte, dass sie keine alte, vertrocknete Jungfer war. Sie dachte nicht darüber nach, ob sie ihn liebte oder auch nur mochte. Es
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