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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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irritiert. Constanze war noch keine vierundzwanzig Stunden im selbst ernannten Adelsstand, und schon schämte sie sich der Armut. Sie verzog leicht den Mund.
    »Bestell ihn vor das Romanische Café auf dem Kurfürstendamm. Es ist normal, dass sich eine Dame von Stand am Nachmittag zum Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen trifft. Und jetzt mach dich frisch. Wir müssen einkaufen gehen.«
    Eine Stunde später betrat Constanze zum ersten Mal in ihrem Leben das KaDeWe. Zuerst schleppte Malu sie zum Friseur, und mit einer Mischung aus Neugier und Wehmut sah Constanze ihre blonden Zöpfe fallen. Als der Meister mit seinem Werk fertig war, erblickte Constanze im Spiegel ein Wesen, das ihr sehr fremd war. Ein schmales Gesicht mit großen blaugrauen Augen, einer feinen Nase und einem schön geschwungenen Mund sah sie an. Die Fremde schien sehr zart zu sein, wohl auch ein wenig jungenhaft, und sie schien nach Schutz zu suchen.
    Sie sieht aus, wie ich mich fühle, dachte Constanze.
    »Perfekt!«, befand Malu. »Du siehst aus wie eine moderne junge Berlinerin. Nun noch etwas Schminke.«
    Sie zog Constanze aus der Friseurabteilung und führte sie an einen Stand mit Utensilien. Eine junge Frau mit dunkel gefärbten Lidern und einem blutroten Mund setzte Constanze auf einen Stuhl.
    »Wie möchten Sie aussehen?«, fragte sie.
    Constanze verstand nicht, was sie meinte.
    »Darf es etwas verrucht sein, oder mögen Sie es eher natürlich?«, fuhr die Kosmetikerin fort.
    Noch bevor Constanze antworten konnte, mischte sich Malu ein. »Ich schlage dir den natürlichen Stil vor«, sagte sie. »Denn mit diesem kommen die Kleider besser zur Geltung.«
    Constanze nickte nur und sah der jungen Frau fasziniert zu, wie sie ihr die Liddeckel bemalte, die Wimpern tuschte, etwas auf ihre Wangen tupfte und ihr zum Schluss sogar die Lippen rot färbte. Die Frau, die ihr jetzt im Spiegel entgegensah, wirkte nicht mehr zerbrechlich und schutzsuchend, sondern selbstbewusst und modern.
    Constanze bekam beinahe Angst vor dieser Fremden, die sie mit wissendem Blick aus dem Spiegel heraus anschaute. »Nein«, sagte sie. »Das bin ich nicht. Nicht so. Wischen Sie mir die Farbe von den Augen.«
    Die junge Kosmetikerin zog ein enttäuschtes Gesicht, tat aber, was Constanze verlangte.
    »So, jetzt erkenne ich mich wieder«, erklärte Constanze.
    Dann sah sie zu, wie Malu einen Lippenstift, ein Tübchen Rouge und eine kleine weiße Box kaufte, in der schwarze Farbe und ein Bürstchen lagen.
    Constanze strich sich immer wieder über ihren Nacken, der zum ersten Mal in ihrem Leben nicht von Haaren bedeckt war. Gern hätte sie sich noch länger im Spiegel betrachtet, um sich an ihr neues Gesicht zu gewöhnen, aber Malu zog sie unbarmherzig weiter.

Siebzehntes Kapitel
    Berlin, 1921
    D as Frühjahr begann mild. Anfang März hatte der Schnee noch kniehoch gelegen, doch jetzt schien die Sonne, als wollte sie die Menschen nach dem langen strengen Winter entschädigen. Malu war froh, dass sie sich nicht mehr täglich um die Briketts kümmern musste. Jeden Tag war sie zum Kohlenhändler an der Ecke gelaufen und hatte ihn um Kohle anbetteln müssen, denn Brennstoffe waren knapp und der Händler ein Sozialdemokrat, der seine wenigen Briketts zuerst an die Familien mit Kindern und an die Alten verkaufte. Eine junge Frau, noch dazu aus gutem Hause, stand bei ihm ganz unten auf der Liste.
    Wegen der unbarmherzigen Kälte hatte Malu oft mit Handschuhen an der Nähmaschine gesessen, einen dicken Schal um Hals und Schultern und derbe, gestrickte Socken an den Füßen. Das Waschwasser war an manchem Morgen gefroren, die Bettdecken waren klamm, und wenn Malu nachts beim Nähen ausatmete, erschienen vor ihrem Mund weiße Wölkchen. Doch das alles störte sie nicht. Sie nähte und zeichnete und nähte und stickte und nähte, als gäbe es nichts anderes auf der Welt.
    Monatelang hatte sie auf einen Brief von Janis gehofft. Und einmal, es war im September gewesen, hatte er wirklich geschrieben. Er hatte von der Ernte berichtet und von den beiden neugeborenen Kälbern. Aber kein Wort darüber, wie es ihm ging. Kein Wort, dass er sie vermisste.
    Malu dachte oft an ihn. An seine warmen Hände auf ihrer Haut, seine trockenen Lippen auf ihrem Mund. Aber immer, wenn sie sich an Janis erinnerte, dachte sie an den Janis, wie er vor dem Krieg gewesen war. An den Janis, der sich angefühlt hatte, als wäre er ihre andere Hälfte.
    Enttäuscht hatte Malu den Brief in eine Schublade gesteckt,

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