Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
und steht für immer kurz davor, sich zu verwandeln.
Jemma lauscht dem weich aufs Dach fallenden Regen. Es überrascht sie, dass ihre Enttäuschung ausbleibt. Diese verführerische Gestalt hat so viel versprochen, und doch wird sie niemals wissen, wer oder was es gewesen sein mag. Stattdessen regen sich alte Gefühle, die sie glaubte, mit ihrem Kind begraben zu haben. Sie spürt den Geruch von Farbe und den Drang, Zeichen auf ein Blatt zu setzen. Wenn sie sich das Bild als Gemälde vorstellt, zählt für sie nicht die Gestalt allein, sondern das Ganze, die Leuchtkraft der verschleierten Landschaft, das Überschäumen des Lichts, das Gefühl unendlicher Tiefe, obwohl der Nebel die Ferne verschwimmen lässt. Sie muss an ihren lieben Ruskin denken, das Diktum ihres geliebten Meisters, dass die Natur keine Umrisse kennt, nur Schatten von Dunkel und Licht. Man könnte sich dieses Bild als ein Werk vorstellen, das bebend und ursprünglich noch im Entstehen begriffen ist, doch genau in dieser Instabilität liegt die Wahrheit: Dass das Leben so flüchtig ist wie das Licht.
Am nächsten Morgen geht Jemma, nachdem sie geschwommen ist, zu der großen Anrichte im Flur, wo sie vor einigen Wochen die Farben entdeckt hat, die einst Henrys Mutter gehörten. Als sie Henry fragt, ob sie diese benutzen dürfe, geht er hinauf in den Dachboden und kommt heftig schnaufend mit zwei leeren Leinwänden zurück, die seine Mutter hatte füllen wollen. Jemma freut sich über die Leinwände, fürchtet aber, ihn mit dem, was sie malen wird, zu enttäuschen. Gewiss erwartet er von ihr, dass sie genauso malt wie seine Mutter oder sich wenigstens auf lokale Szenen konzentriert, wie seine Mutter das immer getan hat. Manchmal ertappt sie ihn dabei, dass er sie verwundert anstarrt, und wenn sie ihn dann fragt, was er denkt, sagt er, sie erinnere ihn an sie. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich das sage?«, fragt er, und sie versichert ihm, dass es ihr nichts ausmacht. Aber sie trägt schwer an dieser Last. Er möchte und braucht mehr von ihr, als sie ihm jemals wird geben können. Und dabei quält sie die Aussicht, dass Nathaniel und sie womöglich ganz schnell ihre Sachen werden packen und verschwinden müssen und er dann zurecht das Gefühl haben wird, schon wieder verlassen worden zu sein.
Wie immer ist er voller Fragen. Malt sie Porträts oder Landschaften? Vielleicht möchte sie den Blick malen, den man vor dem Haus von der Klippe hat, oder hinunter zum Strand gehen und von dort aus das Meer zeichnen. Ob es ihr was ausmache, wenn er ihr bei der Arbeit zusieht?
Jemma sagt ihm, dass dies nicht möglich sei. Sie könne nicht arbeiten, wenn sie sich beobachtet fühlt. Jedenfalls nicht im Anfangsstadium, da müsse sie allein sein.
Sie stellt ihre Staffelei in einem kleinen Raum im Obergeschoss auf, am hinteren Ende des Hauses, wo keiner hinkommt. Hier zeigt das Fenster nach Norden, und das Licht ist fast den ganzen Tag über gut. Als die Farben gemischt sind und alles bereit ist, stellt sie sich vor die Leinwand und denkt an die Gestalt im Nebel. Sie verbietet es sich zu denken, möchte nur dem ursprünglichen Impuls und dem Eindruck folgen, den er hinterlassen hat. Was jedoch nicht bedeuten soll, dass dieses Gemälde nicht gut überlegt sein muss – es ist niemals nur eine Frage der Inspiration. Aber aus Erfahrung weiß sie, dass der harte und schmerzhafte Teil der Arbeit in dem Moment beginnt, wenn sie zu malen anfängt und gewisse Türen offen stehen. Und sobald das geschieht, wird sie so von ihrem Tun besessen sein, dass ihr keine andere Wahl bleibt als weiterzumachen.
So beeindruckend die Ausblicke um Red Ridge auch sind, malen möchte sie diese nicht. Denn was sie malen möchte, ist in ihrem Kopf, und es sind weniger konkrete Bilder als eine Palette von Gefühlen und Erinnerungen und Eindrücken, für die sie eine Form finden muss. Gleichzeitig weiß sie, dass die Form selbst schon im Bild vorhanden ist, dem Bild der Gestalt im Nebel, jene geisterhafte Abwesenheit, die sie immer begleitet und begleiten wird.
Wenn sie in der Vergangenheit mit einem Bild begann, kostete sie das Gefühl aus, sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben, aufzubrechen ins Unbekannte. Aber diesmal ist das Gefühl ein anderes. Sie hat genug von den Reisen und Unsicherheiten eines Lebens auf der Flucht. Wenn sie dieses Mal mit ihrem Pinsel in den Nebel tritt, wird sie nach Hause zurückkehren, so viel steht fest.
Im Lauf der nächsten paar Tage nimmt das
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