Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Stadt von Wombat Hill willkommen hieß. Das Land ringsum war eine fruchtbare Ebene.
Während sie nun die Höhe erklimmt, taucht zwischen den sich wiegenden knochigen Ästen der Eukalyptusbäume die Stadt vor ihr auf. In der neuen Messingglocke des Turms der Feuerwache fängt sich die nachmittägliche Sonne und leuchtet wie ein Feuerball. Auf halber Höhe des Berges, auf dem die Stadt liegt, stehen die drei Kirchen beieinander. Unter ihnen befinden sich das an eine Festung gemahnende Mechanikerinstitut, das Rathaus mit seinen korinthischen Säulen und die düstere Fassade des Gerichtsgebäudes aus Basaltstein. Bis auf ein paar Männer, die im Schatten der breiten Veranden dösen, und einigen Hunden, die sich um Essensreste in der Gosse streiten, ist die Hauptstraße so gut wie ausgestorben.
Bald schon kann sie die Ladenschilder lesen – Brabant’s Warenhaus für Güter des Empires, Geo Jays Manufaktur für Ingwerbier und Erfrischungsgetränke, Mrs. Blanchards Dienstbotenvermittlung, Maximilian Helburgs Tanzschule, Langbeins Brühkaffee und Gewürzhandlung. Am anderen Ende der Stadt leuchtet der weiße Stuck des Hotels Locarno, flankiert von Mozzis Makkaronifabrik, der Schweizerisch-Italienischen Bäckerei, den Kirsch- und Pflaumenplantagen, die an den Felshängen von den ordentlichen Reihen der Weinstöcke abgelöst werden. Sie bleibt stehen, um den Flickenteppich menschlicher Ansiedlung und den schwachen Duft von Sonntagsbraten zu genießen. Wirklich hübsch, aber so verschlafen! Plötzlich muss sie an Melbournes kecke Theaterszene, seine lebhaften Boulevards und schmucken Arkaden denken.
Und dennoch hat es auch ein paar Vorzüge, am Ende der Welt zu leben: Die weiten Ausblicke erfreuen das Künstlerauge ebenso wie das ozeanische Wogen des südlichen Himmels und die flirrenden, endlosen Horizonte. Und soweit sie das nach zwei Wochen beurteilen kann, sind die Rutherfords angenehme Arbeitgeber und deren Tochter Caroline ein anspruchsloser Schützling. Doch übertroffen wird dies alles durch die Freiheit, an den Nachmittagen, wenn Caroline mit ihrer Mutter Besuche abstattet oder Klavierunterricht bekommt, ihrer Kunst frönen zu können. Jemma ist fest entschlossen, die nötigen Mittel für ihre Überfahrt nach Europa zu sparen, um in die Fußstapfen von Miss Adelaide Ironside zu treten, einer jungen Künstlerin aus Sydney, die in Paris studiert hat und jetzt in Rom wohnt und deren Gemälde in London gute Preise erzielen. Wenn man den Zeitungen Glauben schenken darf, steht sie kurz vor ihrem künstlerischen Durchbruch. Dass Jemma keinen der Vorteile Miss Ironsides genießt, keine Familie hat, die sie unterstützt und ermutigt, ihr auch kein Ruf vorauseilt, vermag sie nicht zu irritieren.
Und doch beneidet sie Miss Ironside um deren persönliche Bekanntschaft mit Mr. John Ruskin, Jemmas erstem und bestem Lehrmeister, dessen Sätze in The Elements of Drawing ihr vertrauter und vernünftiger erscheinen als alles, was ihre späteren Tutoren ihr beizubringen versuchten, trotz des Vorteils, dass sie deren Werk hatte unmittelbar verfolgen können. Wann immer sie ihren Ruskin aufschlägt, erhebt sich seine Stimme tief und wohlklingend aus den Seiten und spricht direkt zu ihr, als wäre er bei ihr im Raum. Seit dem Tod ihres Vaters verlässt sie sich mehr und mehr auf Mr. Ruskin – nicht so sehr, um sich von ihm anleiten zu lassen, sondern wegen der väterlich beruhigenden Wirkung seiner glatt rollenden Sätze und seiner Überzeugung, dass man sich beim Malen oder Zeichnen dem Geheimnis des Wesens aller Dinge stellt. Dies ist sein drittes Gesetz des guten Zeichnens und Jemma so wichtig wie alles, was Newton prophezeit haben mag; jenes Gesetz, dass nichts jemals in seiner Perfektion gesehen wird, sondern nur in Fragmenten und unter den »verschiedenen Zuständen der Unklarheit«. Jeder gezähnte Punkt und jede glänzende Ader, die unserem Blick auf die Baumblätter entgehen oder unsere Wahrnehmung täuschen, lehrte er sie, sei eine Lektion in der Schwierigkeit, klar zu unterscheiden oder gerecht »die Risse und die Adern des menschlichen Herzens« zu beurteilen und zu erkennen, »dass wir anfangs vieles von alledem, was uns umgibt und sich in menschlichen Taten oder Gedanken manifestiert, zu verstehen glauben, das uns dann aber bei genauerer und liebevollerer Aufmerksamkeit voller Rätsel zu sein scheint, die weder ergründet noch negiert werden können«.
Auch jetzt, da Jemmas Weg sie am Friedhof vorbeiführt, über den
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