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Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fiona Capp
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im Wind und erstrecken sich bis zum Meer. Als der Dichter dann wieder zu Hause auf seinem Sofa sitzt, womöglich mit geschlossenen Augen, blitzt vor seinem »inneren Auge« das Bild von ihnen auf, und sie rühren sein Herz aufs Neue.
    Nachdem Jemma zu Ende gelesen hat, erzählt sie ihm die Entstehungsgeschichte zu diesem Gedicht. Die erste Zeile sollte eigentlich heißen: »Ich ging allein, wie eine Kuh.« Aber Wordsworths Freund, ebenfalls ein Dichter, meinte, Kühe seien Herdentiere und würden nicht allein loswandern. Deshalb wurde aus der Kuh eine Wolke.
    »Die Geschichte muss natürlich nicht stimmen.« Doch Jemma kümmert das nicht. Es ist trotzdem eine gute Geschichte.
    Gotardo drückt sein Missfallen augenzwinkernd und mit Kopfschütteln aus. »Er hat sich in den Kühen getäuscht, dieser andere Dichter.«
    »Das überrascht mich nicht«, erwidert Jemma lächelnd. »Ich habe mich schon gewundert, was Mr. Coleridge tatsächlich von Kühen versteht.«
    Er hätte ihr gern von seiner Liebe zu Ovid erzählt und wie er diesen las, als er mit seiner Herde unterwegs war, vom Berg herab nach Locarno und wieder hinauf. Er würde ihr gern vermitteln, dass er kein Landei ist, sondern große Literatur zu schätzen weiß und außerdem vertraut ist mit den Regungen des menschlichen Herzens, sei es Traurigkeit oder Freude. Sie hat etwas an sich, das seine Kühnheit weckt. Doch zugleich fürchtet er, dass diese Geschichten von Göttern, welche die Sterblichen schänden, von Töchtern, deren Begierde sich auf ihre Väter richtet, von Müttern, die ihre Söhne zerreißen, von Männern, die sich in Frauen verwandeln, und von Vätern, die ihre Kinder verschlingen, sich nicht für ein höfliches Gespräch eignen.
    Erst als sie bereits gehen will, nimmt er seinen Mut zusammen. Er entschuldigt sich im Voraus und legt dann sein Geständnis ab.
    Zu seiner Erleichterung lacht sie. Sie sagt, von den Klassikern fühle sich keiner verletzt! Würde natürlich jemand heute über derartige Dinge schreiben, wäre das was anderes. Jemma kann sich nur wundern, ein Schweizer Milchbauer, der, den Kopf in ein Buch vergraben, einen Bergpfad entlanggeht.
    Um vom Hof der Serafinis hinauf in die Stadt zu gelangen muss man fast einen Kilometer bergauf gehen, aber es ist ein milder Tag, und Jemma ist froh, ihre Beine bewegen zu können. In letzter Zeit hat sie auf ihren Gängen durch die Stadt immer wieder die verstohlenen und nicht ganz so verstohlenen Blicke in ihre Richtung bemerkt, die Frauen, die ihre Gespräche beenden und sie im Vorbeigehen anstarren. Anfangs redete sie sich ein, sich das alles nur einzubilden, denn da keiner sie schließlich kenne, weshalb sollte man also über sie reden? Jetzt kann sie nicht mehr unterscheiden, wie viel sie sich einbildet und was tatsächlich geschieht. Soweit es ihr möglich ist, meidet sie die Hauptstraße und nimmt die Seitenstraßen – eine Gewohnheit, die, wenn sie beobachtet und zur Kenntnis genommen wird, zweifellos die allgemeine Ansicht befördern wird, dass ihr etwas Dubioses anhaftet. In der Stadt konnte man Außenseiter sein und sich dennoch heimisch fühlen, hier auf dem Land war das was anderes. Diese Stadt ist so neu, und ihre Bewohner sind sich ihrer niedrigen Herkunft so sehr bewusst, dass Ehrbarkeit oberstes Gebot ist.
    Nach dem Tod ihres Vaters war Jemma froh über die Chance gewesen, Melbourne verlassen zu können, auch wenn es sich dabei nur um eine vorübergehende Maßnahme handelte, bis sie genügend Geld gespart hatte, um die Reise nach Europa anzutreten. Die Leere und die Stille des Hauses waren so bedrückend gewesen, dass sie nicht den Wunsch verspürt hatte, noch länger dort zu verweilen. Der unter der Pflege ihres Vaters prächtig gediehene Garten verwilderte nach und nach. Als die Bougainvillea einging, wusste sie, dass sie nicht länger bleiben konnte. Denn diesem Rankengewächs hatte seine besondere Fürsorge gegolten. Er hatte die Glasglocke, die seinen ausgestopften Fasan schützte, über die nur mühsam gedeihende Pflanze gestülpt, um damit ein kleines Treibhaus zu schaffen. Die Pflanze entwickelte sich prächtig, und binnen eines Jahres ergossen sich ihre zarten orangen- und rosafarbenen Blüten über den Gartenzaun. Hilflos musste Jemma dann zusehen, wie in den Monaten nach Erasmus’ Tod die Pflanze langsam verwelkte. Wie sollte sie sich ohne den Kraftquell seiner Liebe um etwas anderes kümmern?
    Was sie jetzt tun wird, weiß sie nicht. Die Aussicht einer Rückkehr nach

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