Sehnsucht
er erblinden, die Welt mit seinen Augen gar nicht mehr sehen können, um mit seiner Seele sehen zu lernen. Erkenntnis, Wahrheit und Liebe und all die anderen geistigen Sehnsüchte hat man nicht, man sucht sie beständig bis an sein Lebensende: Das ist der Wahrheit letzter SchluÃ; Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss. 29
Haben und Sein
Jede am Haben orientierte Lebensbilanz führt unweigerlich zu neuem Hunger und Durst, zu nicht gelebtem Leben, zu offenen Rechnungen, zu verpassten Chancen. Solche Bilanzen hinterlassen immer ungestillte Sehnsüchte, denn man hätte immer mehr haben können: Geld, Sexualpartner, Bedeutung, Reichtum, Einfluss oder Macht.
Faust hätte in seinem Sehnsuchtsdilemma auch ein ganz moderner Bürger eines westlichen Industriestaates sein können. Je mehr leibliche Wünsche er erfüllt bekommt und je mehr irdische Bedürfnisse befriedigt werden, desto tiefer und ungestillter wird seine innere Sehnsucht. Hatte er vielleicht jemals geglaubt, durch ein längeres oder intensiveres Leben würde auch ein Mehr an Befriedigung entstehen, so kommt er im Verlauf seiner turbulenten zweiten Chance mit des Teufels Hilfe immer mehr zu der Erkenntnis, dass die wahre Erfüllung nicht in einem materiellen Mehr, sondern in etwas ganz anderem, vielleicht etwas Geistigem liegen muss. Zwar spürt er, dass es auch einen Lebenshunger und einen Liebesdurst gibt, dass wir Menschen natürliche Wesen aus Fleisch und Blut sind mit körperlichen Gelüsten, aber dass es da noch etwas Ãbernatürliches, Spirituelles, Geistiges oder Religiöses gibt, das uns als Menschen auszeichnet. Faust erkennt, dass eszwei Sehnsüchte gibt oder gar zwei Triebe: Die eine Sehnsucht orientiert sich an der sinnlichen Liebeslust (das Gretchen-Thema), die andere besteht aus geistigen, seelischen, moralischen Ansprüchen und Werten (das Gelehrten-Thema). Daher bleibt für Faust nur die verwirrende Erkenntnis:
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust, Zu den Gefilden hoher Ahnen. 30
Lebenshunger und Liebesdurst gehören zum menschlichen Leben und erst der Tod befreit uns von aller leiblichen Bedürftigkeit. Die materielle MaÃlosigkeit findet niemals wirkliche Befriedigung, Irdisches findet niemals das Göttliche, Grenzenlosigkeit nie eine Grenze, ÃuÃerliches niemals die Innerlichkeit, Sexuelles niemals die Liebe, Materielles niemals das Wesentliche. Diese unstillbare Sehnsucht, die sich stets nur am leiblichen Genuss orientiert, bleibt immer unbefriedigt: So taumâl ich von Begierde zu GenuÃ, Und im Genuà verschmachtâ ich nach Begierde. 31 Es ist das alte und ewig neue Missverständnis zwischen Haben und Sein.
Schlafende Sehnsucht
Lebensbilanzen entstehen nicht erst am Ende eines Lebens, wenn man rückblickend das eigene Leben noch einmal Revue passieren lässt und sich fragt, an welcher Weggabelung man sich hätte anders entscheiden sollen. Solche Bilanzen verstecken sich an jeder Ecke des Lebenslaufes und häufig wird man von ihnen eingeholt, wenn man am wenigsten mit ihnen rechnet. Manchmal ergeben sie sich im Halbschlaf, beim Einschlafen oder Aufwachen. Oder sie treffen einen schlagartig als beinahe brutale Erkenntnis, wenn man gerade beim Bäcker steht, auf die Brötchen wartet und sich beim Anblick des Nachbarn in der Schlange bewusst wird,dass man dieses Leben nicht mehr so wunderbar findet wie noch vor einem Jahr.
Sehnsüchte als Folge von Lebensbilanzen sind auch nicht an Geburtstage, Feiertage, Ferienzeiten oder den Jahreswechsel gebunden, obwohl sie wiederkehrend dadurch ausgelöst werden können. Dann werden diese Ereignisse von einem tiefen Seufzer und einer unbefriedigten Sehnsucht begleitet: Wieder ist ein Jahr vergangen und ich bin meinem Ziel nicht nähergekommen. Was hatte ich mir nicht alles für das zurückliegende Jahr vorgenommen und was habe ich nun erreicht? Eigentlich wollte ich mit dieser Arbeit schon lange fertig sein? Wo ist der Lebenspartner, mit dem ich meine neue groÃe Liebe beginnen wollte? Gerne hätte ich jetzt schon meinen eigenen Laden, stattdessen arbeite ich immer noch in dieser Firma. Was mache ich eigentlich noch hier? Wenn ich keine Familie hätte, wäre ich eigentlich schon
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