Sehnsucht

endeten in Arbeitslosigkeit, Elend, Existenznot, Perspektivlosigkeit und Einsamkeit. Die traurigen, verzweifelten, einsamen Gefühle dieser Menschen fanden ihren Ausdruck im Tango Argentino. Da die Straßenfeste häufig in Schlägereien endeten und daher verboten wurden, verlegte man die Musik- und Tanzveranstaltungen – die Milongas – in Tanzhallen. Der Tango war von Beginn an ein Tanz und eine Musik der leidenden und elenden Menschen, Ausdruck ihrer Verzweiflung und zugleich ihres Stolzes. Einer ihrer ersten Helden war Angel Gregorio Villoldo, der vor seiner musikalischen Karriere als Fuhrmann, Schlachter, Journalist und Zirkusclown gearbeitet hatte. Sein berühmtestes Stück aus dem Jahr 1903 trägt schon im Namen eine eindeutig sexuelle Anspielung: El choclo heißt der Maiskolben . Lange Zeit haben die besseren Kreise versucht, diese sexuelle Komponente und auch die sozialkritischen Elemente des Tangos zum Verbot zu nutzen und als dies nicht mehr ging, haben sie nur den Tanz zugelassen und zugleich die Texte verboten. Heute ist der Tango emanzipiert und von musikalischen Größen wie dem international renommierten Geiger Gidon Kremer anerkannt, der in der Tangomusik eine große Aussage spürt: Solch eine Aussage spüre ich sowohl bei Schnittke als auch bei Piazzolla. Das sind beides große Musiker und Persönlichkeiten mit einer ureigenen Handschrift . 82
    Der Zusammenhang von Tangotanz und Emotionen ist ein ganz besonderer. Dies betrifft zum einen die Gefühle der Tanzenden und zum anderen die Gefühle der Zuschauer. Gabriele Brandstetter, erste deutsche Professorin für Tanzwissenschaft, beschreibt diesen Zusammenhang so:
    Der Zuschauer kann eine stilisierte Haltung bei einer Tangoshow, wenn etwa die Frau das Bein um den Mann schlingt und er sich weit nach hinten beugt, als Pose der Passion lesen und sie ästhetisch genießen, davon aber seelisch unberührt sein. Beobachtet er hingegen ein älteres Paar auf einer Milonga, einem Tanzabend, das ganz versunken ist in eine enge Tangoumarmung, kann es sein, dass er davon viel mehr berührt wird. Das hat nichts mit dem Image des Tanzes zu tun, sondern mit der Übertragung von Emotionen. 83
    Und was fühlen die Tänzer und Tänzerinnen selbst? Man könnte meinen, es seien die Berührungen beim engen Körperkontakt oder die Musik im Einklang mit den Körpern, aber die Sehnsucht findet sich beim Tango eher in den Momenten der äußerst gespannten Erwartung. Eine Tänzerin berichtet:
    So sehne ich mich, sobald ich mich auf dem Parkett in die Arme eine Mannes begebe, nach diesem Augenblick des Innehaltens, des spannungsvollen Abwartens, in dem sich mitten im Musikstück ein Solist über jegliche Takte und Tempi hinwegsetzt und einen Ton ins Unendliche ausdehnt . 84
    Diese Schilderung erinnert an den Moment des Orgasmus beim Geschlechtsakt, der auf das körperliche Ringen und das plötzliche Anhalten und Erstarren folgt. Die Sehnsucht ist anscheinend dort am größten, wo dieser Moment der Erstarrung eintritt, kurz vor dem Orgasmus. Die Tänzerin beschreibt diesen gemeinsamen Geschlechtsakt nur in der Symbolik des Tanzes:
    Als ich zusammen mit meinem Partner zu lernen begann, wollte ich all die schnellen Drehungen beherrschen, die auf der Bühne so gut aussehen. Jene Figuren, bei denen die Frau ihre Beine wie ein Klappmesser zwischen die Beine des Mannes hindurchschießen lässt, so dass man um seine Weichteile fürchten muss. Mich fasziniert das noch immer, vielleicht sogar mehr als früher, weil ich inzwischen weiß, dass solche Figuren nicht die Folge einer Absprache zwischen dem Tänzer und seiner Partnerin sind, sondern der Mann die Frau so führt, dass ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als die Beine so kokett hochzuwerfen … Die Pausen, die ich meine, sind die voller Spannung, Erwartung und Sehnsucht . Und sie schließt ihre tänzerische Beschreibung des Sexualaktes mit den Worten: Ein guter Tänzer gibt mir das Gefühl, mich nur höchst ungern loszulassen . Ganz wie ein guter Liebhaber.
    Das symbolische Versprechen
    Wenn die High-Heels gewirkt haben, dann ist er verzaubert von ihrer umwerfenden weiblich-erotischen Ausstrahlung; wenn der Porsche gewirkt hat, dann erscheint er potent, bedeutsam und wohlhabend; und wenn der gemeinsame Tango gewirkt hat, dann haben sich erotisches Begehren und sexuelle Leidenschaft eingestellt. Der