Sehnsuchtsland
den Gang entlang.
Niclas drehte sich zu Hanna um, die mit verschränkten Armen auf ihn wartete.
Sie schaute ihn ernst an. »Du hast ihm das Leben gerettet.«
Er nahm ihre Hand. »Danke, dass du mich geholt hast.«
»Du hättest nicht aufhören dürfen, als Arzt zu arbeiten!«
Ihr Gesicht war ein offenes Buch für ihn. Er sah nicht nur ihre Erleichterung, sondern auch ihre Bewunderung und — ja, ihre Liebe. Er hatte es schon davor gewusst, aber es jetzt in ihren Augen zu erkennen, war ihm wichtig. Ihre Hand lag in seiner, und diesmal ließ er sie nicht los.
Sie hatten nur Augen füreinander und merkten nicht, dass Siv am Ende des Ganges stehen geblieben war und einen Blick zurückwarf.
Sie sah Niclas vor Hanna stehen und deren Hand halten. Einen Sekundenbruchteil wollten die Beine unter ihr nachgeben. Der Schmerz war schneidend und traf sie völlig unvorbereitet. Doch schon wenige Augenblicke danach wurde er schwächer und wich der bohrenden Frage, ob sie es wohl auch allein in Stockholm packen würde. Mit zusammengezogenen Brauen ging sie in das Untersuchungszimmer und schloss sacht die Tür hinter sich.
*
Sie nahmen sich die Zeit für einen letzten Spaziergang. Erik war nicht auf der Miranda, er hatte auf der Ruderbank einen Zettel hinterlassen, dass er etwas vergessen hätte und bald wieder da wäre. Es stand keine Uhrzeit dabei, und da er schon vor Jans Zusammenbruch die Anlegestelle verlassen haben musste, konnte es gut sein, dass er schon in ein paar Minuten wieder zurückkehrte.
Doch Hanna war es egal. Sie wollte noch einmal mit Niclas zusammen sein, wenigstens für eine kurze Weile. Es war vielleicht ein Fehler, aber sie konnte nicht anders. In seiner Nähe zu sein war wie Balsam für ihre Seele.
Unweit der Werft erstreckte sich lichter Mischwald am Ufer des Sunds. Sie wanderten zwischen den Bäumen hindurch, immer darauf bedacht, nah beim Wasser zu bleiben. Wie aus einer stillen Übereinkunft heraus achteten sie darauf, einander nicht zu berühren.
»Ich konnte meine eigene Frau nicht retten«, sagte Niclas, nachdem sie eine Weile gegangen waren.
Sie schaute ihn liebevoll an, und er begriff, dass sie es schon vorher gewusst hatte. Vermutlich hatten Lotta oder Jan es ihr erzählt. Dennoch war er erleichtert, dass er es gesagt hatte.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte Hanna sanft.
»Ein Riss in der Aorta.« Er ersparte ihr den medizinischen Fachausdruck und auch Ausführungen darüber, dass es jeden treffen konnte, ob Jung oder Alt, und dass es in den meisten Fällen tödlich endete. »Sie ist zusammengebrochen, ganz plötzlich, beim Abendessen. Ich habe alles versucht, sie zu retten. Aber sie ist innerlich verblutet.«
Hanna schaute ihn herausfordernd an. »Und diese Stelle im Gesundheitsministerium — glaubst du, dass du das alles dort besser vergessen kannst?«
Er hob die Schultern. »Wenigstens kann ich da keine Fehler mehr machen, die ein Menschenleben kosten können.«
»Das nennt man Flucht.«
»Ja und? Fliehen wir nicht alle vor irgendetwas?« Eine Spur von Sarkasmus schlich sich in seine Stimme. »Du doch auch. Und dabei weißt du genau, dass der Schatten auf deiner Seele, vor dem du fliehst...« Er stockte, und seine Stimme wurde leiser. »Dass du ihn überallhin mitnehmen wirst.«
Sie wollte das nicht hören und ging eilig weiter, doch er hatte sie rasch eingeholt. »Du hast gesagt, du willst Erik und dir noch eine Chance geben. Wieso gibst du uns keine Chance?«
Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn du zu mir sagen würdest: Niclas, lass uns...« Er hielt kurz inne und überlegte. Er hatte Neuseeland sagen wollen, doch das musste es nun wirklich nicht unbedingt sein. »... ans Ende der Welt fahren«, fuhr er fort. Er ging um sie herum und suchte ihren Blick. »Weißt du, was ich tun würde? Ich würde meinen Sohn packen und mit dir kommen.«
Hanna schloss kurz die Augen. Dieser letzte Spaziergang war doch ein Fehler gewesen, sie erkannte es, noch bevor er seine nächsten Worte aussprach.
»Hanna, ich liebe dich. Und so komisch es klingen mag: Ich würde alles für dich tun.«
Sie wich seinen Blicken nicht länger aus. »Dann mach deine Praxis wieder auf«, sagte sie drängend. »Komm wieder hierher zurück, dahin, wo du gebraucht wirst.«
Er schaute sie unverwandt an. »Und du?«
Sie schwieg lange. Schließlich sagte sie leise und hoffnungslos: »Du hast es schon gesagt. Mir fehlt der Mut.«
Damit
Weitere Kostenlose Bücher