Sehnsuchtsland
diese Sorte Apfelkuchen alles stehen und liegen.
»Du musst ihr sagen, dass du sie vermisst«, drängte Ingrid. »Es ist nicht leicht für sie!«
Björn ballte die unverletzte Hand zur Faust. »Sie fühlt sich immer noch schuldig«, sagte er tonlos. »Nach zehn Jahren! Mein Gott, wieso verschwendet sie bloß auf diese Weise ihr Leben!« Seine Wut verrauchte ebenso schnell, wie sie gekommen war. Er senkte den Kopf und berührte fahrig den Tellerrand, dann nahm er doch die Gabel und teilte ein Stück von dem Kuchen ab. »Ich würde ihr ja gern helfen. Wenn ich nur wüsste, wie.«
Ingrid hätte am liebsten geweint, doch sie wusste, dass ihn das nur noch mehr verstören würde. Sie hatte keine Ahnung, was sie noch an tröstenden Worten sagen sollte. Alles, was gepasst hätte, war schon vor Jahren ausgesprochen worden. Sie drehten sich nur noch im Kreis. »Vermutlich wird sie am Ende ihren Weg allein finden.«
Die Resignation, die in ihren Worten zum Ausdruck kam, besiegelte die Aussichtslosigkeit der Situation erneut. Es war nun mal so, wie es war, und sie konnten offenbar nicht das Geringste dagegen tun.
*
Sonnenlicht fiel in blassgoldenen Sprengseln durch das Blätterdach der Bäume und malte unregelmäßige Lichtmuster auf den bekiesten Weg. In ihren Vorstellungen war Lena schon oft hierher gekommen, an diesen besonderen Ort direkt am See. Viel häufiger, als sie zählen konnte. Jeden Schritt hatte sie in Gedanken schon getan, hatte sich selbst dabei beobachtet, wie sie Meter um Meter zurücklegte, bis sie schließlich bei Stefans Grab angekommen war.
Doch in der Realität war sie all die Jahre hunderte Kilometer weit weg gewesen, und selbst jetzt, nachdem sie es endlich hingekriegt hatte, überhaupt wieder nach Hause zu kommen, schaffte sie es nicht, das letzte Stück des Weges zurückzulegen.
Lena glaubte, ersticken zu müssen, als sie an der Mauer aus Bruchsteinen entlangstreifte , die den Friedhof zum Weg hin abgrenzte. Sie erreichte das Tor und streckte die Hand aus, berührte das eiserne Gitter.
Und zuckte zurück, als hätte sie glühendes Metall angefasst. Sie konnte es nicht. Gott helfe ihr, sie brachte es nicht fertig, diese paar erbärmlichen letzten Schritte bis zu seinem Grab zurückzulegen!
Erschüttert und von Selbsthass erfüllt, wandte sie sich ab und rannte stolpernd davon, bloß weg von hier.
Sie erreichte das freie Feld und traf dort unversehens auf Magnus, der sich urplötzlich wie aus dem Nichts zu materialisieren schien.
» Hej «, sagte Lena mit flattriger Stimme.
Er lächelte sie auf seine beunruhigende Weise an. Lena hatte mit einem Mal das Bedürfnis, irgendetwas mit ihren Händen zu tun. Zum Beispiel, ihr Haar aus dem Gesicht zu streichen oder zu prüfen, ob ihre Bluse richtig saß.
Er machte eine ausholende Geste um sich herum, deutete auf die Bäume, die weiten Wiesen, den See. »Es ist unglaublich, wie schön es hier ist.«
Lena schaute sich um und holte Luft, als sehe sie selbst diese Umgebung zum ersten Mal. »Ja«, sagte sie ruhig. Mehr nicht.
Es war schön, und sie war die letzte Person, die das bestreiten wollte. Es war so schön, dass es sie innerlich zerriss, wenn sie daran dachte, wie bald sie wieder weg musste.
Magnus betrachtete sie intensiv. »Es gibt nicht viele Orte mit so einem besonderen Zauber. So wie ihn Marielund hat.«
Lena hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Sie wollte nicht über Marielund reden.
»Ingrid hat mir erzählt, dass Sie Architekt sind«, meinte sie eilig. »Was bauen Sie denn so? Könnte ich etwas von Ihnen kennen?«
»Ich entwerfe Wohnhäuser und Schulen«, antwortete Magnus bereitwillig. »Beispielsweise die in der Hinrichsgatan in Stockholm.« Er schien mehr als erfreut über ihr Interesse zu sein, und während sie langsam nebeneinander den Waldweg entlanggingen, merkte Lena zu ihrem eigenen Erstaunen, dass sie wirklich mehr über ihn erfahren wollte.
»Ja, ich glaube, die kenne ich sogar. Macht Ihnen Ihr Beruf Spaß?«
Er nickte. »Ich wollte Häuser bauen, seit ich denken kann. Vor allem Häuser, in denen Menschen leben können. Familien.« Er lächelte. »Am besten auf dem Land.«
»Mögen Sie die Stadt nicht? Sie leben doch in Stockholm, oder?«
»Doch, ich wohne gern in der Stadt. Die meiste Zeit jedenfalls. Nur manchmal...« Er hielt inne. »Manchmal ist da so eine Sehnsucht. Nach Natur, nach Platz.« Er deutete hinaus auf den See. »Dieser weite Blick, den man hier hat, den vermisse ich in der Stadt schon
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