Sehnsuchtsland
nur um irgendetwas von sich zu geben. Hastig fügte er hinzu: »Möchtest du vielleicht mitkommen?«
Sie nickte stumm, und er war glücklich wie ein Kind, weil sie ihn dabei auf eine Art anlächelte, die kaum noch Fragen offen ließ.
Sie holten sich Fahrräder aus dem Stall und radelten durch das Wäldchen den See entlang, lachend und albern und dabei doch gleichzeitig so gehemmt wie zwei Teenager bei ihrer ersten wichtigen Verabredung. Magnus rupfte im Vorbeifahren ein Büschel Halme aus dem hoch wachsenden Gras neben der Straße und strich Lena damit kitzelnd über den nackten Arm. Sie kicherte ausgelassen und warf ihm mutwillig funkelnde Blicke von der Seite zu. Na warte, schienen ihre Augen zu sagen.
Doch mit ihrer guten Laune war es hinter der nächsten Wegbiegung schlagartig vorbei. Auf einer kleinen Lichtung am Straßenrand war ein Elch aufgetaucht, ein großes, schönes Tier mit einem majestätischen Geweih und einem gewaltigen Körper. Sein Kiefer bewegte sich behäbig beim Widerkäuen, und sein verfilzter Bart schaukelte sacht hin und her.
Magnus hörte hinter sich Blech scheppern. Lena war einfach vom Rad gestiegen und hatte es achtlos auf die Straße fallen lassen. Wie festgenagelt stand sie mitten auf der Fahrbahn, mit weit aufgerissenen Augen und entsetzt geöffneten Lippen. Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, sie war so weiß wie ein Laken.
»Lena?« Magnus schaute sie bestürzt an. »Was ist denn los?«
Doch sie hatte sich bereits abgewandt und rannte wie von Furien gehetzt die Straße entlang und dann seitwärts in die Büsche, um von dort aus den Hang hinabzustolpern, vorbei an einer großen Felsformation, bis sie auf einer von Bäumen gesäumten Wiese direkt am See schluchzend in die Knie brach.
Magnus war ihr gefolgt und hockte sich dicht neben sie. Er legte beide Hände um ihr Gesicht und schaute sie eindringlich an. »Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
Anstelle einer Antwort weinte sie nur laut auf. In ihrem Gesicht spiegelte sich solche Qual, dass Magnus glaubte, es keine Sekunde länger aushalten zu können. In seiner Hilflosigkeit tat er das Einzige, von dem er meinte, dass es sie vielleicht von ihrem Kummer ablenken könnte: Er beugte sich vor, um sie zu küssen. Im nächsten Moment schmeckte er ihre Tränen und die Süße ihres Mundes und war verloren.
Lena hingegen war völlig außer sich, sie ergab sich nicht nur seinen Zärtlichkeiten, sondern drängte sich heftig an ihn. Stumm und in blinder Inbrunst verlangte sie mehr. Wild an seinem Hemd zerrend, riss sie ihn mit sich ins hohe Gras.
Es war, als sei plötzlich ein Damm in ihr geborsten, der viele Jahre lang alle Gefühle, Begierden und Sehnsüchte in ihrem Inneren zurückgehalten hatte. Mit einem Mal war sie frei. Sie wollte alles, und sie wollte es sofort. Zum ersten Mal seit zehn Jahren fühlte sie sich lebendig. Niemand durfte ihr das wieder wegnehmen!
Ihre Bewegungen waren hastig und ungestüm. Immer noch schluchzend, klammerte sie sich an ihn und versuchte ihm noch näher zu kommen, beseelt von der verzweifelten Gier, die sich immer dann zeigt, wenn das Leben über den Tod triumphiert hat. Ihre Vergangenheit hatte endlich aufgehört. Dies war die Zukunft, und Lena war entschlossen, sie mit allen Mitteln festzuhalten.
*
Emma trieb Svala zu einem leichten Galopp, während sie auf Björn zuritt, der am Gatter auf sie wartete. Ihr dunkler Pferdeschwanz wippte unter ihrem Helm, als sie den Braunen zügelte und vor Björn zum Stehen kam.
Er grinste sie beifällig an, während er sich einhändig an den Sattelgurten zu schaffen machte, um deren Spannung zu überprüfen.
»Du reitest wirklich sehr gut«, lobte er sie. »Als wärst du im Sattel geboren.«
» Svala ist aber auch so ein liebes Pferd. Wir kommen super gut miteinander aus.«
Björn fand am Sitz der Gurte nichts auszusetzen. Er klopfte dem Pferd auf die Flanke. »Du kannst los.«
Emma ließ Svala antraben. »Bis dann, Björn!«
»Pass auf dich auf, mein Mädel.«
Er winkte ihr nach, während sie in Richtung See davonritt . Sie war ein bemerkenswertes Kind und erinnerte ihn in vielen Kleinigkeiten an Lena, die in dem Alter auch wie ein kleiner Teufelsbraten zu Pferd gesessen und die Wälder rund um Lagerberg unsicher gemacht hatte. Es hatte viele Tage gegeben, an denen er sich Sorgen gemacht hatte, wenn sie auf einem Ausritt die Zeit vergaß und zu spät zum Essen kam. Einmal hatte er sie sogar zusammen mit den Knechten suchen müssen,
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