Sehnsüchtig (German Edition)
nicht hinsehen, tut es trotzdem. Irina, sagt das Handy und zwei Gesichter strahlen sie an, Wange an Wange, Eliot und Irina, der Hintergrund sieht nach Süden aus, nach Meer. Irgendwann verstummt das Handy. Alys geht durch das Atelier und blickt zum Fenster hinaus. Auf dem Gehsteig unten geht Eliot auf und ab, zündet sich eben eine zweite Zigarette an. Eine reichte wohl doch nicht. Das Handy hinter ihr piepst zweimal, ein SMS, wahrscheinlich die Mitteilung, dass Irina auf die Mailbox gesprochen hat.
Kurz darauf kommt Eliot wieder zurück. Er sieht ruhiger aus, die Kälte hat ein bisschen Farbe auf seine Wagen gebracht. Er hat markante Wangenknochen, scharf geschnitten, würde es in einem kitschigen Roman heissen, diesen Romanen, wie Alys’ Grossmutter sie gelesen hat. Die Schundbücher sehen immer gleich aus. Eine rotwangige, blondgelockte Schönheit, dralles Dekollete, freiherziges Kleid, lächelt dümmlich vom Cover und lehnt sich an eine breite Heldenbrust. Der Held wiederum sieht aus wie eine Mischung aus Pirat und Stripper der Chippendales und hat langes blondes oder schwarzes Haar.
Auf jeden Fall hat Eliot scharf geschnittene Wangenknochen oder wie man es immer nennen möchte. Wangenknochen wie Johnny Depp ... oder wie Orlando Bloom, in den sie sich als Teenager verguckt hatte, als dieser als Elb Legolas über die Kinoleinwand flimmerte. Sie erinnert sich an die Titelgeschichte in einem der Mädchenheftchen, die sie damals gelesen hatte, war es ‘Mädchen’ gewesen oder doch ‘Bravo Girl’? Egal. „Wangenknochen, mit denen man Papier schneiden könnte“, hatte es da geheissen.
Sein Blick liegt auf ihrem Gesicht, als frage er sich, worüber sie nachdenkt. „Dein Handy hat vorher geklingelt“, sagt sie. „Toller Song, übrigens, ‚Gimme Stitches’“, schiebt sie nach. Er lächelt sie etwas abwesend an und greift nach seinem iPhone, blickt auf das Display. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckt, aber sein Blick bleibt ungerührt. Er legt das Handy wieder hin.
Dann erinnert er sich offenbar an ihre Zigaretten und ihr Feuerzeug, holt beides aus den Taschen der grauen Jeans und lässt es über den Tisch rutschen. Sie packt beides wieder ein. „Danke“, sagt er noch einmal. Dann blättert er in seinen Notizen, die für die Sitzung bereit auf dem Tisch liegen. Saubere Schrift, energisch, schwarzer Kugelschreiber, mehrere Seiten, dazwischen diverse Skizzen. Er scheint sich viele Gedanken gemacht zu haben.
Er betrachtet die Seiten einen Augenblick. Dann blickt er auf, klappt das Notizbuch mit Schwung zu. Es ist ein schwarzes Moleskine-Buch, wie es schon Ernest Hemingway, Pablo Picasso und Oscar Wilde benutzt haben. Sie mag die Bücher selbst auch, sie sind aber nicht ganz billig. „Komm mit.“ Er steht wieder auf. Schiebt Notizbuch und Handy in eine braune Lederumhängetasche, die aussieht, als schleppe er sie seit Jahren mit sich herum. Sie steht auf und betrachtet ihn überrascht.
„Ich muss raus hier, lass uns irgendwo einen Kaffee trinken gehen!“
Mit diesen Worten ist er beim Kleiderständer und schlüpft in seinen Blazer. Eliot Wagner. Kreativ, charmant, ironisch, perfektionistisch , das hatte zumindest seine Freundin gesagt – und wie sie heute gemerkt hat, launisch. Oder emotional? Sie stellt ein weiteres Adjektiv in die Reihe und es passt. Unberechenbar.
Er hat ihre Jacke vom Haken genommen und hält sie auf, damit sie hineinschlüpfen kann. Der unberechenbare Gentleman. Die verräterische, kleine Stimme in ihrem Kopf, die so sehr nach ihrer eigenen klingt, flüstert ein weiteres Adjektiv. Alys nimmt es zur Kenntnis und hört dann weg. Faszinierend. Faszinierend. Sei still.
„Wo gehst du so Kaffee trinken?“, will er wissen, während er die Tür des Ateliers hinter ihnen abschliesst.
„Ich gehe meistens ins ‚Lila’, da ist es sehr gemütlich und meistens auch sehr ...“
„... voll, stimmt“, vervollständigt er ihren Satz. „Ich mag es auch. Aber ich hab eine andere Idee. Komm mit.“ Irgendwie hat sie die beiden Wörter heute schon einmal gehört. Die erste Begegnung im ‚Mon Amour’ kommt ihr in den Sinn. Komm her, hatte er gesagt.
Komm her. Komm mit. Ein Mann, der weiss, was er will und gerne die Richtung vorgibt. Sie fragt sich, ob er privat auch so ist. Vermutlich schon. Ob das auf Dauer anstrengend werden kann?
Er geht quer über die Strasse und sie folgt ihm. Wie letztes Mal betreten sie die Tiefgarage, wo sein Auto steht. Wobei ‘Auto’ fast eine zu profane
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