Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
dem Sekretär von Ulbricht, ein schwacher Schriftsteller, der hatte sich vorgenommen, mich unter seine Fittiche zu nehmen. Ich fragte ihn: »Hat denn hier schon mal einer gegen einen Beschluss gestimmt?« Worauf er antwortete: »Du musst noch viel lernen, Mädchen!« Da nahm ich mir fest vor: Nein, das lerne ich nie!
GW Daran hat sie sich beim 11 . Plenum gehalten.
JS Das musst du jetzt einmal genauer erzählen, Oma!
CW Im Dezember 1965 fand das 11 . Plenum des ZK der SED statt. Eigentlich war es als ein Wirtschaftsplenum geplant. Es sollten Wirtschaftsreformen und ein neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, kurz NÖSPL , eingeführt werden. Aber es gab Schwierigkeiten. Dieses Programm war im Vorfeld in Moskau auf Kritik gestoßen. Außerdem hatten Jugendliche in Leipzig gegen das »Beatverbot« protestiert, zuvor waren fast alle Beatgruppen in der DDR verboten worden. Da kam die Parteiführung auf die glorreiche Idee, auf die kamen sie stets in solchen Momenten, dass die Kultur an allen Problemen schuld sei. Die Filme Denk bloß nicht, ich heule und Das Kaninchen bin ich waren in Vorbereitung.
JS Und das Buch von Werner Bräunig 59 über die Wismut AG !
CW Ja, Rummelplatz – das war überhaupt der Anlass, das war das Schlimmste. Ein paar Wochen vor dem Plenum gab es eine Zusammenkunft zwischen Walter Ulbricht und Künstlern. Er liebte es, mit Künstlern zusammenzutreffen.
JS Das mögen führende Politiker bis heute gern: Gerhard Schröder, Kurt Beck, Franz Müntefering, Angela Merkel.
CW Ach, Merkel auch? In dem Fall traf sich Ulbricht nur mit Schriftstellern. Und zwar im damals neuen Staatsratsgebäude. Ich war dort zum ersten Mal. Uns wurde zum Beispiel stolz der tolle Mechanismus vorgeführt, wie sich die Vorhänge von allein öffneten und schlossen. Wir waren ungefähr zwanzig bis dreißig Schriftsteller, ein paar Funktionäre und eben Ulbricht. Als wir ankamen, wartete oben an der Treppe der damalige Erste Sekretär des Schriftstellerverbandes Hans Koch, ein Funktionär, der eigentlich Philosoph war und immer sehr viel Angst hatte. Koch hatte begriffen, dass das, was offiziell lief, einfach Mist war, fürchtete sich aber schrecklich davor, dazu Stellung zu nehmen. Er begrüßte uns mit wabbelnden Wangen und sagte: »Heute wird es ganz schlimm, ihr werdet sehen!« Da ich Kandidatin des ZK war, saß ich an der Hufeisentafel auf der Seite von Walter Ulbricht. Der hielt ein Kurzreferat und ging mit einem Mal auf Werner Bräunig los. In der Neuen Deutschen Literatur 60 waren zuvor Auszüge aus Rummelplatz erschienen. Das wurde plötzlich als eine unglaubliche Provokation und als eine Verzerrung der Wirklichkeit empfunden. So sei es in der Wismut nie gewesen, und das müssten wir uns nicht bieten lassen. Der Genosse Bräunig habe sich vollkommen verrannt, er müsse zurückgepfiffen werden. Er wurde sehr scharf angegriffen.
JS Hattet ihr alle Rummelplatz gelesen?
CW Die zwei Kapitel in der Neuen Deutschen Literatur hatte ich gelesen. Die anderen kannten das sicherlich nicht alle. Nun sollte es eine Diskussion geben, aber kein Mensch sagte ein Wort. Das war unheimlich peinlich. Dann hieß es: Na ja, wenn ihr nicht reden wollt, dann machen wir erst mal eine Pause. Da liefen die Funktionäre herum und sagten: Um Gottes willen, jetzt sagt doch bloß mal was, das kann doch nicht so bleiben! Wir setzten uns wieder hin, und ich sah, dass Ulbricht etwas zugeschoben wurde. Es war die NDL , aufgeschlagen und mit Anmerkungen an den Stellen, die man nicht dulden wollte. Das heißt, Ulbricht hatte die beiden Kapitel vorher gar nicht gelesen. Da dachte ich, nun kann ich nicht den Mund halten. Also sagte ich, ich hätte den Text anders interpretiert, keineswegs DDR -feindlich. Sehr schön war, dass sich auch Anna Seghers für Bräunig einsetzte. Dann wurde noch über andere Themen diskutiert. Im Schlusswort hieß es auf einmal, es sei alles nicht so schlimm. Wir wissen doch, dass Genosse Bräunig ein guter Genosse ist. Es gab plötzlich einen anderen Tonfall. Die Sitzung war zu Ende, und ich ging auf die Toilette. Dort traf ich die Sekretärin von Kurt Hager, dem höchsten SED -Ideologiechef, und die sagte zu mir: »Du ahnst ja nicht, was Anna und du heute hier verhindert habt.« Ich dachte, vielleicht haben wir tatsächlich etwas verhindert. Aber das kam mit erhöhter Wucht auf dem 11 . Plenum.
JS Und die
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