Sei dennoch unverzagt: Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf (German Edition)
Partei?
GW (summt) »Die Partei, die Partei, die hat immer recht!« Er war eigentlich ein sehr sensibler Lyriker.
JS Warum war ausgerechnet er in Gefahr?
GW Er arbeitete als Kulturattaché an der tschechischen Botschaft in der DDR , und alle, die etwas mit Slánský zu tun hatten und Juden waren, waren gefährdet. Der tschechische Botschafter ist erschossen worden. Fürnberg sagte immer: »Mich haben sie vergessen!« Er wurde nur nach Prag zurückbeordert und bekam dort im Schulministerium einen neuen Posten. Bei Fürnbergs im Vestibül hing ein Bild seines jüdischen Großvaters.
CW Wenn die Fürnbergs nachts im Bett lagen, sagte er zu seiner Frau: »Wenn die kommen, um mich zu holen, glaube bitte niemals, dass ich parteifeindliche Dinge gemacht habe.« So war das.
JS Bis in die Familie hinein reichte das Misstrauen.
CW Bis tief in die Familien reichte vor allem die Angst.
JS Das muss euch in eurem Glauben an den blühenden Sozialismus doch schon sehr erschüttert haben!
CW Das bewirkte, dass wir entschlossen waren, den Stalinismus aus der Partei zu verbannen. Damit sie überhaupt wieder als kommunistische Partei wirksam sein konnte. Wir bemühten uns seit Ende der fünfziger Jahre, in der Kulturpolitik im Rahmen unserer kleinen Möglichkeiten Kritik zu üben, normale Verhältnisse durchzusetzen.
GW Chruschtschow war so ein Lichtblick. Der Westen war für uns nie eine Alternative. Und wenn man sieht, was dort los war, hatten wir eigentlich recht. Wie viele alte Nazis in der Bundesrepublik das ganze System durchdrungen hatten.
CW Im Westen war für uns zu viel Faschistisches geblieben.
JS Im Osten gab es doch auch alte Nazis.
GW Aber im Westen war der ganze Apparat von ihnen durchsetzt. Natürlich gab es auch im Osten alte Nazis, sie waren aber umgeschult oder umerzogen worden. Sie waren durch die Lager gegangen und verhielten sich danach oft besonders dogmatisch oder parteitreu.
CW Es gab auch Menschen wie den Schriftsteller Franz Fühmann 54 , der nie verheimlichte, dass er ein Jungnazi und in der Wehrmacht gewesen war. Der sagte, er wisse nicht, zu welchen Schandtaten er bereit gewesen wäre, wenn man ihn dazu getrieben hätte. Was er gemacht hätte, wenn er an den Öfen von Auschwitz gestanden hätte. Ich fand, er ging in seiner Selbstbeschuldigung ein bisschen zu weit. Er arbeitete das sehr intensiv auf, andere schwiegen darüber. Und drüben, im Westen, sahen wir die Vertriebenenverbände, damit konnten wir uns überhaupt nicht identifizieren.
JS Habt ihr damals oder später einmal darüber nachgedacht, in den Westen zu gehen, oder war das nie eine Option für euch?
CW Das ist ganz schwer zu formulieren. Wenn ich sage, wir haben darüber nachgedacht, ist es zu viel. Und wenn ich sage, wir haben nie daran gedacht, ist es zu wenig. Es gab eine Zeit, nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 , in der viele Kollegen weggingen, in der wir auch merkten, dass deine Mutter Annette und Honza sehr darüber nachdachten. Ich erinnere mich genau, wie ich neben Gerd im Auto sitze, den Atlas auf den Knien halte und darin blättere: Wohin könnte man gehen? Westdeutschland kam nicht in Frage. Straßburg im Elsass kam uns einmal in den Sinn, dort sprechen sie auch deutsch. Es ging auch um die Sprache. Wo kann ich deutsch schreiben. Also eventuell Straßburg. Es ist dann doch nicht dazu gekommen.
JS War das eine ernsthafte Überlegung?
CW Es war einfach so, dass man nicht mehr wusste, wohin man gehörte. Andererseits steckten in unserem Briefkasten Zeitungen, auf deren Ränder Leute geschrieben hatten: »Bleiben Sie bloß hier! Gehen Sie nicht auch noch weg!« Man hatte schon das Gefühl, gebraucht zu werden und nicht abhauen, nicht flüchten zu wollen. Nach der Biermann-Sache 55 waren wir 1977 zu einer Kur in Hévíz in Ungarn. Als wir zurückfuhren, dachte ich die ganze Zeit darüber nach, was wir machen sollten. Ich war völlig besetzt von diesen Problemen. Ich saß im Bus nach Budapest und sagte mir, also wenn ich weiter schreiben kann – ernsthaft und ohne mich zu verbiegen, dann kann ich bleiben. Wenn ich das nicht mehr kann, muss ich gehen. Danach habe ich Kassandra geschrieben und hatte das Gefühl, das gibt mir das Recht zu bleiben.
JS Aber du musstest deine Manuskripte immer einem Zensor vorlegen, oder?
CW Ich musste sie beim Aufbau Verlag einreichen,
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