Sei lieb und büße - Thriller
seitdem Tabletten genommen haben? Sie klang nicht nach Verzweiflungstat, sie klang nach Kreuzzug.
Ein Kreuzzug gegen mich.
Mein Finger klebt auf der Klingel.
Mach auf! Verdammt! Mach schon auf!
Endlich. Der Summton. Ich schmeiße mich gegen die Tür und rase die Treppe hoch.
»Mensch, Sina, was –«
Vor mir steht ihre Mutter. Oder besser das, was von der schönen Frau vom Pausenhof noch übrig ist. Ein Wrack. Ungekämmt. Das Nachthemd zerknittert und auf einer Seite über die Schulter gerutscht, die Augen dick geschwollen, das Gesicht zerknautscht, auf der linken Wange der Abdruck eines Kissens. Ihre ausdruckslosen Augen sehen mich an, ohne mich zu sehen, sehen durch mich hindurch, als wäre ich transparent.
»Hallo, Frau Beckhaus. Ich bin mit Sina verabredet.«
»Inna Schule«, nuschelt sie. »Bis Tabea, nich?«
Ich nicke. Ich weiß, dass Sina nicht in der Schule ist. Ich habe Lars angerufen und der hat mir bestätigt, dass sie nicht dort ist.
»Kann ich hier auf sie warten? Wir wollten zusammen lernen. Vielleicht ist sie aufgehalten worden.«
Statt einer Antwort zeigt Sinas Mutter auf die Zimmertür, hinter der Sina bei meinem letzten Besuch verschwunden ist. Das soll wohl heißen, ich darf in ihrem Zimmer warten. Dann schlurft sie den Gang entlang und schließt eine Tür hinter sich.
Neugierig gehe ich in Sinas Zimmer. Hier war ich noch nie. Ein Bett mit bunter Wäsche, ein schwarzer Schreibtisch, ein schwarzer Schrank mit grünen und orangen Punkten und ein schwarzes Regal, gefüllt mit Büchern und Krimskrams, kunterbunt durcheinandergewürfelt.
Ich setze mich auf den Drehstuhl an ihrem Schreibtisch und lasse meinen Blick in Ruhe durch das Zimmer wandern. Fotos an einer Pinnwand und ein Miniaturbasketballkorb als Abfalleimeraufsatz fallen mir als Erstes auf. Dann sehe ich es.
Pink.
Abgegriffen.
Ich weiß sofort, was es ist.
Als würde es mich magisch anziehen, stehe ich auf und hole es von Sinas Nachttisch. Mias Tagebuch.
Mein ganzer Körper zittert. Als wäre Mia plötzlich im Raum, höre ich ihre Stimme: »Hey, Tabea, gut gemacht! Wenn du am Samstag so abgehst, holst du den Pokal für uns.« Ich sehe sie, in ihrem Sportdress, die Haare mit einem Stirnband zurückgebunden. Sie kommt auf mich zu, hält die Hand in die Höhe, »Gimme five!«. Das Klatschen, als unsere Hände aufeinandertreffen, der Stolz, der in mir schwelt wie eine Glut, die nur auf ein Stück Papier wartet, um in einer gleißenden Flamme hochzuschießen.
Ich mochte sie. Wie ich mich gefreut habe, als ich Clemens und Mia das erste Mal zusammen gesehen habe. Bei uns. Auf dem Spielplatz. Ich auf der Schaukel. In der Ferne zwei Pünktchen, gesichtslose Gestalten, die Hände ineinander verschlungen, die Füße im Gleichtakt. Meine Erinnerung zoomt sie heran. Mias Gesicht. Clemens’ Gesicht. Ich bin so überrascht, dass ich mein Gleichgewicht verliere. Ich falle von der Schaukel, falle in Clemens’ Glück hinein, in das Strahlen seiner Augen. Nein, es ist ein Funkeln, der Tanz Tausender Glühwürmchen. Ich tauche ein, versinke in dem Funkenstrahl und falle weiter, immer tiefer, hinunter in die schwärzeste Schwärze.
Ich bin ein Monster.
Oh, Mia! Was haben wir dir nur angetan! Ich weiß noch, wie wir gelacht haben über deine Versuche, Cruella in ihre Schranken zu weisen. Ich weiß noch, wie sehr ich dich gehasst habe für das, was du Clemens angetan hast. Ich weiß noch, wie ich Laureen eine Mail geschrieben habe, dass du büßen musst. Dass du leiden sollst. So leiden wie Clemens. Mehr als Clemens. Du solltest in der Hölle schmoren.
Ich habe mich im Recht gefühlt. Ich habe nur meinen Bruder gerächt.
Zum hundertsten Mal fahre ich mit dem Ärmel über mein Gesicht, versuche, der Tränenflut Einhalt zu gebieten, und verschmiere dabei den Rotz über das ganze Gesicht.
Das habe ich nicht gewollt.
Es ist nicht deine Schuld gewesen.
Es war Bessy. Von Anfang an Bessy.
Sie hat absichtlich eure Beziehung zerstört.
Sie hat dich zerstört.
Sie hat Rik zerstört. Sie hat Riks Mutter zerstört.
Sie hat Clemens zerstört. Sie hat mich zerstört.
Warum?
Warum? Warum? Warum?
65
Kaum hält der Bus, springt Sina schon auf die Straße. Sie orientiert sich, dann läuft sie die von Kastanien gesäumte Allee hinunter, auf die Prachtbauten in den blütenüberladenen Gärten zu.
Plötzlich hupt es hinter ihr. Sina macht einen Satz zur Seite, will dem Fahrer einen Vogel zeigen, als Laureens elfenbeinfarbener Mini neben ihr
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