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Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)

Titel: Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Jürgs
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gelöscht.«
    Als er die Zettel gelesen hatte, lächelte der Lehrer. Sein Einsatz hatte sich gelohnt. Die drei hatten tatsächlich ja keine Ahnung, was ein Porno ist, sie hatten zu Hause nur mitbekommen, dass es irgendwas Verbotenes war, was nur Erwachsenen erlaubt ist. Das hatte sie gereizt. Er lobte sie für ihre Fähigkeit, per Handy Filme zu drehen. Er erfand einen Wettbewerb für alle seine Schüler. Sie sollten sich in kleinen Gruppen überlegen, was sie gerne filmen würden draußen
in der Natur.Also keine Trinkhallen, keine Spielsalons, keine Dönerbuden, keine Videoshops, keine Nacktaufnahmen ihrer Freundin.
    Sondern das, was ihnen im Park oder bei einem Ausflug in den Staatsforst auffallen würde – Tiere, Pflanzen, Menschen. Alle machten begeistert mit, alle Filmchen wurden gezeigt. Ja, mehr noch: Er überließ es der Klasse, ihren Superstar zu wählen, also das Team, dessen Film den Kindern am besten gefallen hatte.
    Eine gute Idee. Hilflose Jugendämter dagegen kommen auf absurde Ideen, den sichtbaren Verfall der Sitten zu stoppen. Dass Bußgelder fällig werden für Schulschwänzer, steht in einem entsprechenden Gesetz.Aber erstens kümmert sich niemand darum, und zweitens ist es bei den betroffenen Familien eh sinnlos, Geld einzutreiben.Weil sie nichts haben, was einzutreiben sich lohnen würde.
    Die Stadt Oer-Erkenschwick beschloss deshalb, ihre sogenannten Problemfamilien, wie diese auffälligen Eltern-Kind-Biotope im Amtsdeutsch heißen, für das zu belohnen, was normalerweise ihre Pflicht ist. Wer seine Sprösslinge mindestens vier Wochen lang pünktlich in der Schule abliefert, mit oder ohne Frühstück, bekommt einen Bonus-Stempel. Den soll es auch geben für regelmäßige Besuche beim Kinderarzt oder für die Belegung von Kursen an der örtlichen Volkshochschule, in denen gelehrt wird, wie man Kinder ohne die Hilfe einer durchs Fernsehen bekannten Super Nanny selbst erzieht. Wie in der Entwicklungspolitik steht Hilfe zur Selbsthilfe dahinter als Idee. Bei einer bestimmten Anzahl von Stempeln zahlt das Amt eine Prämie. Einhundert Euro. Gedacht war der Plan für Eltern, die sich »der Zusammenarbeit mit Jugendamt, Kindergarten oder Schule konsequent entziehen«.
    Nach verständlichen Protesten derer, die ihre Kinder
pünktlich zur Schule schicken, ohne dafür eine Prämie zu verlangen, verkündete die Stadtverwaltung, natürlich würde es kein Bargeld geben, weil sonst die Gefahr bestünde, dass die Eltern die hundert Euro sofort umsetzen in Alkohol, Zigaretten oder eine fällige Rate für den ihnen liebsten Erziehungsberater, den neuen Fernsehapparat. Sondern Sachprämien. Eine Kamera. Einen Grill. Eine Kaffeemaschine.
    Philipp Mißfelder, Vorsitzender der Jungen Union, ein junger Christdemokrat, der sich jeder passend scheinenden Lage mühelos anpassen kann, hat sich eigene Gedanken zum Thema gemacht. Die waren zwar etwa so blöde wie die Lieblingsformate der von ihm attackierten Zielgruppe ALG 2 und Hartz IV, aber er erreichte, was er wollte: ein paar Schlagzeilen und auch die zu erwartende wütende Reaktion des politischen Gegners. Die Erhöhung des Regelsatzes für Kinder zum 1. Juli 2009, so Mißfelder, sei ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie, weil die Eltern das Geld nicht etwa für ihre Kinder einsetzen würden, in bessere Ernährung zum Beispiel, sondern in Zigaretten und Schnaps für sich selbst.
    Ähnlich pauschal urteilte auch sein Parteifreund Oswald Metzger vor Jahren, als er noch ein Grüner war: »Sozialhilfeempfänger sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hineinzustopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen.«
    Eine Frau, die es besser weiß, Susanne Kahl-Passot, Leiterin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg, konterte wirksam mit Fakten und ihrer Erfahrung statt mit Empörung. Erstens seien viele Menschen arbeitslos, die nichts dafür könnten, keinen Job mehr zu haben. Punkt. Zweitens habe es das schon immer gegeben, dass Menschen ohne Arbeit ihre Probleme im Alkohol ertränkten. Punkt. Und was
das Fernsehen betreffe: »Was sollen die Leute denn den ganzen langen Tag machen? Man muss Angebote schaffen, um ihnen aus der Isolation zu helfen.« Gutscheine würden an der hoffnungslosen scheinenden Lage dieses Teils der Nation nichts ändern, da kämen sich viele, die es nötig hätten, wie Bettler vor und würden lieber verzichten. Statt Bargeld oder Gutscheinen würden

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