Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
schimpft mit seiner Mutter. Auch die reagiert konsequent: Maul halten, oder der Fernseher bleibt stumm.
Kind vier wird vom neuen Lebenspartner seiner Mutter ständig geschlagen, was es irgendwann seiner Lehrerin weinend beichtet. Die von ihr zur Rede gestellte Mutter meint abwehrend, dass ihr Sohn ein Lügner sei. Und falls er noch einmal einen solchen Scheiß über seinen neuen Papa erzähle, setze es auch von ihr Prügel.
Zufällige Beispiele, irrelevant für die Beurteilung der gesamten Situation? Daran schuld nicht ein Fernsehprogramm, weil man ja ausschalten könne, bevor es in die leeren Köpfe dringt?
Alles richtig.Aber deren Wirklichkeit ist eine andere. Niemand schaltet bei denen den Fernsehapparat aus. Der läuft permanent. Auf beengtem Wohnraum. Wenn es entweder auf dem Bildschirm oder tatsächlich zur Sache geht, wenn der neue Papa auf die Mutti will, sagt die nur: Dreh dich zur Wand, Kind. Sonst setzt es was.
Begonnen übrigens hat der Verlust des Privaten, was offenbar der Begriff »Privatfernsehen« auch impliziert, mit Tutti Frutti , als zum ersten Mall weibliche Vertreter der damals noch nicht als Kernzielgruppe erfassten Unterschicht ihre Brüste hüpfen ließen. Die Auftritte hatten sogar indirekt etwas mit Schule zu tun, weil die halb nackten Hupfdohlen, die sinnlos um einen gewissen Herrn Hugo Egon Balder tänzelten, ganz eindeutig ihre Schule zum frühestmöglichen Zeitpunkt verlassen hatten, um fortan im wahren Leben fürs Leben zu lernen.
Bei Streit auf dem Schulhof, den normalen Raufereien, wie es sie immer gegeben hat, sind auch früher Ausdrücke benutzt worden, die nicht unbedingt zu den besonders feinen gehören. Also so etwas wie »blöde Kuh« oder »dumme Sau«. Da gab es dann zur Sühne bei Bedarf vielleicht mal eine Strafarbeit, etwa hundertmal abschreiben: Ich darf meine Mitschülerin Silke nicht dumme Kuh nennen. Oder im Wiederholungsfall auch mal eine Stunde Nachsitzen. Beides ist vom zuständigen Ministerium den Lehrern untersagt. Sie dürfen nur die Eltern über den Vorfall informieren, falls sie die per Handy zufällig mal erreichen und falls die sich dafür überhaupt interessieren. Inzwischen geht es außerdem ja längst nicht mehr so gesittet zu. Die gängigen Beschimpfungen heute zählt Lehrerin X auf: Hurensohn, Fick dich doch selbst,Wichser, Nutte. Dass sie also morgens gefragt wird, was oben wiedergegeben wurde, schockiert sie zwar immer noch, aber es wundert sie nicht mehr.
Sie darf sich nicht einmal mit deutlichen Worten und Ermahnungen wehren. Selbst wenn die Väter und Mütter sonst nicht viel wissen, eines wissen sie genau – dass sie gewisse Rechte haben, und die kennen sie. Falls sie die ihren verletzt glauben, beschweren sie sich. Jeder Beschwerde muss nachgegangen werden. Das kostet die Beschuldigten, obwohl sie tatsächlich unschuldig sind, Zeit und Kraft. Und diese Kraft fehlt ihnen im täglichen Abwehrkampf gegen die Welle der Dummheit.
Also nehmen sie die Verrohung von Sprache und Sitte, das prollige Benehmen ihrer kleinen Faultiere hin, schieben die schlimmsten ab auf die letzte Station, die Sonderschulen. Überlassen das Seichtgebiet resigniert den Blöden, statt es beherzt auszutrocknen. Schließen ermüdet die Tür hinter dem Raum mit Leergut.
Wenn Politiker, egal welcher Couleur, die Zustände an solchen Schulen beklagen, deren innere Verfassung so marode ist wie die äußere, ähnelt das dem Gesang von Pharisäern. Ohne das nötige Handwerkzeug – Strafarbeiten, Nachsitzen, soziale Dienste – können die Frontkämpfer keine Schlachten gewinnen, keine Grenzen ziehen. Dieses Handwerkzeug wird ihnen von Behörden verweigert.
Das amtlicheVersagen eröffnet den Predigern harter Schulen ein weites Feld. Sie schreiben auf, was nach ihrer Meinung immer noch so gut hilft, wie es einst bei den auffälligen Großvätern und Vätern geholfen hat: Strenge, Disziplin, Ordnung. Deutsche Sekundärtugenden also. Gelesen werden ihre Bestseller nicht von Unterschichtlern, denn die lesen nun mal keine Bücher, sondern von Oberschichtlern, die schon lange der Meinung sind, dass die unten selbst schuld sind, wenn sie es nicht nach oben schaffen. Aber zielen diese Autoren denn nicht vielmehr auf ihre verwöhnten Kinder statt auf die da unten, meinen sie denn nicht die Kinder,
die alles haben, und stellen damit auch deren Eltern an den Pranger?
In der Tat. Das machen sie.
Frage der Eltern an ihren lieben Kleinen: Was machst du gerade, mein Kind?
Antwort: Ich
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