Seichtgebiete: Warum wir hemmungslos verblöden (German Edition)
chatte.
Aha.
Chatten im Netz gilt als ideale Beschäftigung für Einzelkinder, weil sie dort Freunde finden, mit denen sie über all das reden können, was ihre Eltern eh nicht verstehen. Früher schrieben die Mädchen ihre sie naturgemäß in einem gewissen Alter bedrängenden Probleme in ein Poesiealbum oder in ihr Tagebuch, die sorgsam gehütet und vor fremden Einblick versteckt wurden.
Heute gehen sie ins Netz. Damit sie keinem der finsteren Dunkelmänner in die Fänge geraten, hat das Familienministerium ein zielgruppengerecht gestaltetes Faltblatt herausgeben lassen, dessen Inhalt auch online abzurufen ist ( www.jugendschutz.net ). Die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen sind dort in einfachen Sätzen notiert: Chatte am Anfang nicht allein, sondern frage Eltern oder ältere Geschwister um Hilfe. Denk dir einen guten Spitznamen aus, benutze niemals den richtigen Namen, das richtige Alter, den Wohnort oder die Schule.Verrate nie deine Adresse, deine Telefonnummer. Versende keine Fotos von dir. Gib nichts Persönliches preis. Suche dir einen Chat, in dem jemand aufpasst. Solche Aufpasser sind Moderatoren, und man kann sie in guten Chats per Knopf um Hilfe rufen.
So einen Knopf hätte die Lehrerin X auch ganz gerne. Täglich. Stündlich. Als sie die fettleibige Mutter jenes Neunjährigen beim Elternsprechtag fragte, woher denn wohl ihr Kleiner solche Wörter wie »ficken« kennen würde, antwortete die, das wisse sie auch nicht, ehrlich. »Wenn mein Mann
so spricht, sind die Kinder eigentlich immer alle im Bett.« Eigentlich.
Am Morgen nach dem Amoklauf von Winnenden hat Lehrerin X mit ihren Schülern über das gesprochen, was die alle am Abend zuvor in den Fernsehnachrichten gesehen haben. So was kommt manchmal von so was, sagte sie, es könnte doch sein, dass der Killer als gemobbter Außenseiter in seinem Wahn, sich nicht anders wehren zu können, um sich geschossen habe. Einem Jungen, der ihr zuhörte und dann zustimmend nickte, zischte daraufhin ein anderer zu: Du bist gedisst.Was so viel bedeutet wie: Du bist ein Außenseiter.
Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, in die Seelen der Kinder vorzudringen. Aber als Erfolg wertet sie die dunkle Stunde dennoch. Sie weiß jetzt, auf wen sie aufpassen muss. Wen sie beschützen muss. Wen sie verteidigen wird gegen die mobbenden kleinen Blöden.
Es ist nicht mehr als ein Tagessieg.
Aber wenigstens war es mal wieder einer.
KAPITEL V
Kante statt Kant
Ü ber den Wolken wohl darf Freiheit wirklich grenzenlos sein. Nur da. Es wäre wahrscheinlich doch sinnvoll gewesen, hätte man rechtzeitig dem ungestümen Drang nach Selbstverwirklichung ein paar Grenzen gesetzt und ein natürliches Schamgefühl gefördert und eingefordert, statt so etwas scheinbar Spießiges als Relikt bürgerlicher Konventionen zu verdammen. Hätte man Werte definiert, die unantastbar für alle, egal, in welcher Schicht sie sich bewegen, bleiben müssten, hätte man außerdem eiserne Reserven mit wirksamem Gegengift angelegt, um die Epidemie der ansteckenden Krankheit Verblödung selbst dann stoppen zu können, nachdem sie ausgebrochen war.
Denn zu viele glauben, sich alles erlauben zu können, weil alle Tabus gebrochen sind. Die Parole, deren geniale schlichte Konsequenz in ihrer Wirkung sogar Blöden einleuchten dürfte, falls jemand sie ihnen erklären würde und es dabei schafft, sie so in ihre Sprache zu übersetzen, dass sie den Sinn verstehen, ist bekanntlich der Kategorische Imperativ des Philosophen Immanuel Kant.
Demzufolge soll sich ein Mensch, egal, von welcher Geburt, und egal, zu welchem Stand erwachsen, grundsätzlich so verhalten, dass die Maxime des eigenen Handelns anderen ein Vorbild sei, in Kants Worten: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie
ein allgemeines Gesetz werde.« Grob vereinfacht müsste das der heutigen Zielgruppe von bestimmten Menschen etwa so erläutert werden:Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.
Klar? Na klar.
Unterschichtler wie Oberschichtler, Ungebildete und Eingebildete, deutschstämmiges und Deutsch radebrechendes Volk eint aber im Gegenteil in einem von verblödeten Massen besetzten Flachland der Kampf gegen Klasse. Jedwede Geschmacksverletzung wird dabei selbstverständlich vorausgesetzt. Wer sich in diesem Klassenkampf voll krass danebenbenimmt, kommt unter seinesgleichen gut an. Schlechtes Benehmen ist die Voraussetzung, um überhaupt mitmachen zu
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