Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
knospen? Mitten in einem Land, das vergeht?« Sie streckte sich, gähnte. »Das ist eindeutig eine Machtprobe! Ich weiß nicht, was er vorhat. Aber ich werde mal nachsehen, woher diese Energie stammt.«
»Ja, mach das«, stimmte Alebin zu. »Aber Finger weg von dem Kind, verstanden? Das ist kein Futter für dich.«
»Ich liebe Kinder«, schnurrte Shumoonya.
17 Winterdämmerung
Nadja und David hatten unglaubliches Glück bei ihrem Sprung ins Ungewisse: Er endete zwischen Ruinen, und das Paar schrammte um Haaresbreite an dem scharfkantigen Mauerwerk vorbei. Ihr Aufprall auf dem Boden war atemberaubend hart, aber wenigstens gab es dort kein brüchiges, splitterndes Gestein und keine tödlichen Ecken. Bloß Erde und ein wenig Gras.
Einen Moment lang blieb Nadja reglos liegen, benommen von dem heftigen Aufschlag. Das Blut sang in ihren Ohren, sie konnte nicht richtig sehen und fühlte ein schmerzhaftes Pochen am Hinterkopf. Mehr allerdings nicht, und das machte ihr Angst. Was, wenn sie sich gleich zu bewegen versuchte und herausfand, dass es nicht ging? Dass nicht nur ihre Arme und Beine zerschmettert waren, sondern auch die Wirbelsäule? Ein Leben im Rollstuhl, immerwährend auf die Hilfe barmherziger Seelen angewiesen … War das der Preis, den sie für ihren Kampf um Talamh zahlen musste?
Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Nadja zwang sich, ihre Zehen zu bewegen. Ein bisschen nur, gerade genug, um festzustellen, ob sie noch gehorchten. Und ob vielleicht ein grässlicher, stechender Schmerz der Bewegung folgte – das sichere Zeichen für einen Knochenbruch. Doch die Zehen wackelten wie befohlen, und es tat auch nicht weh. Mit den Händen und Armen verhielt es sich genauso. Nadja atmete auf. Glück gehabt!
Neben ihr kam David zu sich. Sie legte ihre Hand auf seine Brust, sprach ihn an.
»Ich bin tot!«, sagte er gequält, ignorierte das aber und setzte sich ächzend auf. »Puh, das war ein ziemlicher Sturz. Geht es dir gut, Nadja? Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens.«
»Bei mir auch. Hast du eine Ahnung, wo wir hier gelandet sind?«
Nadja sah sich um. Mauerreste standen ihrem Blick im Weg – hohe, kleine, zur Unkenntlichkeit zerfallene –, und dort, wo keine waren, sah sie nur wolkenschweren Himmel. Daraus folgerte die junge Frau, dass sie sich weit über Bodenniveau befanden. Möglicherweise auf einem Hügel, mit etwas Pech sogar auf einem Berg. Graue Winterdämmerung lag über dem Ort. Ob es Morgen oder Abend war, konnte Nadja nicht mit Sicherheit sagen. Wohl aber etwas anderes.
»Mein Gott, ist das kalt!« Sie erhob sich von der frostigen Erde. Bibbernd schlang sie die Arme um den Körper, damit ihre Jacke nicht so flatterte und vermeidbare Zusatzkälte an die Haut ließ.
Nadja ging ein Stück durch die fremde Ruinenlandschaft, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und nach einer Orientierungshilfe zu suchen. Einem Schild vielleicht oder einer bekannten Silhouette. Der Eiffelturm wäre zum Beispiel hilfreich gewesen. Nicht so sehr wie ein Richtungsweiser mit der Aufschrift
Da lang, Nadja Oreso!
, aber er hätte genügt.
Vorsichtig schritt sie dahin, denn der Untergrund war von Steinen und Grasnarben durchsetzt, die zum Stolpern geradezu einluden. Eisiger Wind pfiff über die zerklüfteten Mauern – und brachte etwas mit. Nadja blieb stehen. David war ihr gefolgt; sie griff nach seinem Arm und fragte stirnrunzelnd: »Hörst du das?«
Rauschen, gleichmäßig und träge. Es kam aus der Tiefe, gut hundert Meter unterhalb der Ruinen. Nadja lauschte aufmerksam. Vor ihr, aus der Windrichtung, endete das Geräusch und wiederholte sich sogleich. Rechts und links auch, aber dort folgte ihm weiter hinten jedes Mal ein Klackern und Prasseln. Wie von tausend kleinen Steinen, die das Wasser von ihrem Platz spülte und mit sich nahm.
»Eine Brandung«, sagte Nadja. Sie wandte sich an David, der mit hochgezogenen Schultern neben ihr stand und frierend auf den Fußballen wippte. »Wir stehen auf einem Felsenhügel, der ins Meer ragt. Die Mauern hier oben auf dem Plateau sind entweder die Reste einer Festungsanlage oder einer Burg.«
Davids Augen wurden groß. »Das alles verrät dir ein
Meeresrauschen?
«
Nadja lachte. Zärtlich nahm sie sein kaltes Gesicht in die Hände und küsste ihn. Dann löste sie das Geheimnis auf. »Wenn du der Brandung zuhörst, merkst du, dass sie hinter uns an den Seiten über Land läuft. Das abfließende Wasser bewegt die Strandkiesel, und sie klackern aneinander. Aber
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