Seidel, S: Elfenzeit 16: Bestie von Lyonesse
wollte den Palast umbauen. Wer trödelte oder gar nicht gehorchte – auch das ließ er sie gern wissen –, werde mit dem Tod bestraft. Ohne Prozess, unverzüglich und unter größtmöglichen Schmerzen.
Nachdem diese Neuigkeiten die Runde gemacht hatten, fiel das Land in eine Schockstarre. Wie betäubt folgten Elfen und Menschen Alebins Anweisungen und erledigten Dinge, die ihnen vorher nicht einmal in einem Albtraum eingefallen wären. Zum Beispiel den Umbau des Palastes. Der Rosenpalast war uralt; er stammte noch aus der Zeit der verehrten Ersten Herrscherin. Er war so schön, wurde durch alle Jahrhunderte mit größter Liebe und Sorgfalt gepflegt. Und nun? Nach und nach fielen die sahneweißen, zierlichen Mauern und Säulengänge mit ihren goldenen Rosenranken dem Vorschlaghammer zum Opfer. Klobige Schutzwälle traten an ihre Stelle, die den Palast uneinnehmbar machen sollten und ihn entstellten. Kostbare alte Zuchtrosen mussten der Straße weichen, die Alebin rings um den Palast bauen ließ. Zahlreiche Glashäuser aus unersetzlichem, zart gefärbtem Kristall wurden zerschmettert – unter Tränen. Von denen, die sie liebten.
Man wollte den sanften Bewohnern von Lyonesse zurufen: »Wehrt euch, verdammt noch mal! Lasst den irren Rothaarigen nicht alles kaputt machen. Ihr habt doch auch magische Fähigkeiten. Nutzt sie! Oder stellt ein Heer auf und überrennt den Kerl.«
Doch es hätte nichts genützt.
Seit Anbeginn der Zeit war Lyonesse den Lehren der Ersten Herrscherin gefolgt. Prinzessin Carmandua hatte ihrem Volk gezeigt, dass Gewaltlosigkeit, Edelmut und all die anderen Tugenden auf lange Sicht stärker waren als blutige Auseinandersetzungen. Werte überlebten, Kriege nicht.
Daran glaubten die Menschen und Elfen in Lyonesse, und es hielt sie davon ab, sich gegen den neuen Machthaber aufzulehnen. Dies und die Bestie. Ihre Magie war nicht elfischen Ursprungs, das konnten Aurenträger spüren. Gnadenlos wütete sie unter den Aufrührerischen, und immer mehr ergaben sich der Gewalt.
So war also, wie Alebin bemerkte, als er eines Januarmorgens auf den königlichen Balkon trat, alles in bester Ordnung. Weshalb er trotzdem ein missmutiges Gesicht zog, lag an einer Kleinigkeit, die er einfach nicht in den Griff bekam. Eine Amme namens Camlynn trug sie soeben durchs Zimmer heran.
»Er will noch immer nicht essen, Herr!«, sagte sie mit untertänigem Knicks. »Und allmählich mache ich mir wirklich Sorgen um Talamh. Wir haben alles versucht – selbst Cor und der Kau. Sie haben ihn mit etwas gelockt, was er angeblich immer gern annahm: Bananenbrei mit Bourbon-Vanille. Doch auch den hat er verschmäht.«
Alebin wandte sich fluchend von der Brüstung ab, trat ins Zimmer und beugte sich über das kleine Bündel in Camlynns Arm. »Willst du mich in den Wahnsinn treiben oder was?«
»Dadada!« Talamh jauchzte und streckte das Händchen nach Alebins Gesicht aus.
Der Elf ruckte zurück. Schlimm genug, dass ihm dieses Balg auf der Nase herumtanzte – darin popeln kam nicht infrage. »Nimm die Pfoten weg, du kleine Pest!«
»Häpp-fffff!« Spuckebläschen quollen aus Talamhs Schnute, und er strahlte, als Camlynn sie mit einem Tuch wegwischte.
Alebin hob die Schultern. »Er wirkt auf mich nicht krank. Versuch noch einmal, ihn zu füttern. Wenn er nicht gehorcht, machst du es wie bei den Gänsen: rein in den Hals und runterstopfen!«
»Aber Herr!« Erschrocken wich Camlynn zurück, legte eine Hand auf das Kind.
»Aber was?«
»Er ist ein Baby! Da darf man nicht …«
Alebin stemmte seine Fäuste in die Seiten. »Willst du mir widersprechen, Weib?«
Camlynn senkte den Blick. »Nein, Herr. Ich werde tun, was du sagst.«
So schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Frau auch wieder. Sie war bereits die dritte Amme, die Alebin angeheuert hatte, und sie würde wahrscheinlich nicht die letzte sein. Er hörte, dass sie den Flur entlang zum Kinderzimmer ging. Talamhs vergnügtes
Dadada!
verriet ihren Weg.
Kaum war sie fort, wandte sich Alebin der Bestie zu, die gemütlich ausgestreckt auf zwei zusammengeschobenen Ottomanen lag. »Seit wir hier sind, hat das Balg nichts gegessen. Das ist doch nicht normal!«
Shumoonya fletschte die Zähne. »Unnormal ist nur, dass er noch
lebt
. Talamh müsste längst verhungert sein, ist es aber nicht. Was sagt dir das?«
»Keine Ahnung. Verrate du’s mir.«
Die Bestie rekelte sich. »Das Balg zieht irgendwo magische Energie ab. Hast du gesehen, dass an seiner Wiege Blätter
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