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Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927

Titel: Seidel, Willy: Alarm im Jenseits. Nn. 1927 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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deren Muskeln unbeweglich ruhten, wie in Wachs gegossen, von einer einzigen hoffnungslosen Empfindung vergewaltigt. Hie und da krausten sich die Stirnen wie bei Schauspielern, die vorsichtige Brauen spielen lassen, um sich über ein pikantes Stichwort zu verständigen; sogar ein verlornes Lächeln blühte auf, dessen Reiz jedoch durch eine plötzliche, lüsterne Vertiefung gestört ward. – Die großen Hüte wackelten, die feinen, perlmutternen Hälse der Soubretten schienen ihrer Federlast zu erliegen. Der helle Staub legte sich gleichmäßig um durchbrochene Strümpfe und scharf gebügelte Hosen. Die Seide der Kleider rauschte, von müden Knien mechanisch vorwärts gestoßen; die Schuhe, deren Lack, vom Staub getrübt, in dem fadenscheinigen Licht matt blitzte, knirschten leise. Atemzüge vernahm man nicht, die Leute wurden wie Marionetten vorwärts gezogen. –
    Wie lange man so gewandert war, konnte keiner sagen, denn die Zeit schien stillzustehen. Die Leute begannen zu räsonnieren, zu scherzen und zu lachen, und der Krampf in den Gesichtern löste sich. Es war, als ob hinter jeder Hirnschale etwas Erfrorenes taute; das Leichenhafte schwand, die alten Funktionen der Organe schienen freigegeben. Eine bald stockende, bald regsam dahinfließende Konversation erhob sich; jeder erzählte seine letzten Erlebnisse und die Art seines Todes. Selbstmorde schienen am meisten zu interessieren, und ein weißhaariger, wenn auch augenscheinlich erst vierzigjähriger Kavalier brachte sein chickes Ableben mit viel Selbstgefälligkeit und sportlicher Kürze zur Darstellung, so daß die anderen in ein beifälliges Schweigen versanken. Die kleinen Halbweltdamen und ihre exotischen Schwestern, asiatische, romanische, nordische Typen in buntem Wechsel, hefteten feuchte Tierblicke voll unterwürfiger Koketterie auf die Männer und klimperten mit ihrem Schmuck . . . Endlich war das Gespräch, endlich war der letzte Satz in zitternde Worte zerbrochen, in die leere Luft verhaucht. Schweigen lähmte alles, und Boggi, der am Ende des Zuges wie ein müdes Pferd trottete, empfand die Betäubung des absolut Leeren, doch ohne Genugtuung. Er fühlte sich nicht wohl unter diesen Gespenstern; das Geplapper hatte ihn wild und matt gemacht, die Wehmut und verbissene Klage hatten ihn widerlich sentimental gestimmt. Ein unabweisbares Verlangen nach der Ruhe zwischen erlesenen Likören, dem blauen Qualm ägyptischen Tabaks und dem einlullenden Zusammenprall von Billardbällen erfüllte ihn. Er sehnte sich darnach, dies alles als einen wüsten Traum von sich schieben zu dürfen, in ironische Distance, auf das Regal des passiven Witzes. Eine Wut erwachte in ihm und fraß seine Gedanken, und schließlich ward sie so stark wie ein roter Stern, der in feurige Funken auseinanderspritzt und alle Sinne versengt.
    »Nicht einmal das hat man vom Leben, daß man sich in Ruhe aufs Ohr legen kann«, dachte er ingrimmig. »Man wird durch schattenhafte Gefilde gehetzt, mit zweifelhaften Leuten . . . die Razzia des Satans! – Wahrhaftig, ich möchte diesem Kavalier meine Meinung sagen! . . . Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich so beeilen sollte!« – Er setzte sich auf die Straße. Die Gesellschaft war bald im Zwielicht verschwunden. Eine beklemmende Stille machte sich breit; eine Stille, die auf Unerhörtes zu sinnen schien. Waghalsige Träume, schattenhaft durch groteske Tiere verkörpert, belebten die Gegend. Allerhand durchsichtige Symbole, zu Scheinwesen erhoben, glitten über die Straße, die einem weiten Heerpfad wimmelnder Erinnerungsbilder glich; die ganze graue Kette leerer Stunden, an denen das Leben Boggis so reich gewesen, zog sich eintönig an ihm vorüber, wie der Schall von trägen Tropfen in schaudererregende, verschollene Tiefen. Nichts war festzuhalten, nichts zu entkleiden, nichts stand Rede, allen Dingen fehlte der letzte Schluß, die Auflösung . . . Er hörte eine peinvolle, beständige Dissonanz, die dem Gesang blutdürstiger Stechmücken glich, aus dem Sumpf der Herzensträgheit zu Millionen erzeugt . . .
    Das war die Hölle. Boggi fühlte es und sprach zu sich: »Das ist die Hölle . . . was geht sie mich an?« Er lächelte verächtlich; er wappnete sich mit Gleichmut und erwartete die Zukunft ohne weitere Reflexion. Er ärgerte sich, daß er nichts zu rauchen hatte; sein vernickeltes Etui war leer. Er setzte sich auf einen Meilenstein; zwischendurch sah er die silbern schimmernden Telegraphendrähte an . . .

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