Seidene Küsse
viktorianischen Picknick im Grü nen mit ihren besten Freunden, die sie seit Kindertagen kannte, wobei sie sich selbst die Rolle dieser Nackten zuwies.
Wie passend, dass ihr Miriam im letzten Herbst einen riesigen, voll ausgestatteten Picknickkorb aus dem Londoner Kaufhaus
Harrod’s
mitgebracht hatte, der seitdem unbenutzt in der Rumpelkammer verstaubte.
Es war Hochsommer, der Wetterbericht war ihr hold. Es gab keine Ausrede mehr.
Nicht nur der Manet, auch der Ort, an dem ihr Freiluft-Festmahl endlich stattfinden würde, hatte seit einer Ewigkeit in Annabelles Kopf herumgespukt: eine riesige Trauerweide, deren lange Äste fast bis auf den gepflegten Rasen hinabreichten, einen lieblichen Girlanden-Vorhang bildend, der luftigen Schatten spendete und zusammen mit den wenigen kleinen Büschen, die sich schutzsuchend an den alten Stamm schmiegten, die nötige Privatsphäre ermöglichte. Der kleine, künstlich an gelegte Badesee in unmittelbarer Nähe rundete die fast schon unwirkliche Bilderbuch-Idylle ab.
Mädchenhaft wie ein Stummfilmstar wirkte die zierliche, vierundzwanzigjährige Annabelle mit ihren großen blauen Augen, der fast transparenten Porzellanhaut und dem schwarzen Pagenkopf. Doch wie so oft trog der Schein. Kaum jemand hätte solch ein aufwändiges Fest in dieser Geschwindigkeit so minutiös planen und realisieren können. Nicht allein ihrem lasziven schwarzroten Taftkostüm – natürlich selbst entworfen -war anzusehen, dass sie eine Perfektionistin war.
So bot sich dem Betrachter ein opulentes Stillleben im Schutz der Trauerweide, das seinesgleichen bei den alten Meistern suchte. Wer schon einmal aus einem Flugzeug auf eine landwirtschaftlich genutzte Ebene hinabgesehen hat, hat eine Vorstellung von der bunten Patchwork-Fläche aus flauschigen Wolldecken, die hier den saftig grünen Rasen bedeckten. Große feste Kissen sollten dafür sorgen, dass es sich jeder auf seine Art bequem machen konnte.
Für Annabelles Mann Lothar war es selbstverständlich, die Rolle des Zeremonienmeisters zu übernehmen. Zu ihrer großen Freude hatte ihn diese Aufgabe derart beansprucht, dass er ihr die Auswahl seiner Garderobe überlassen hatte. Endlich konnte sie ihm beweisen, welch ein schmucker Kerl in ihm steckte, auch wenn er selbst immer noch die ausgewaschenen T-Shirts aus seiner Studienzeit hortete und ansonsten alles überstreifte, was gerade nicht im Wäschekorb lag. Was sie sah, als er geschniegelt und gespornt vor ihr stand, gab ihr Recht: Der eng anliegende braune Samtanzug mit dem rosefarbenen Hemd und der passenden Schleife verlieh dem jungenhaften Sechsundzwanzigjährigen, der seinen Babyspeck wohl nie verlieren würde, die Aura eines Westernhelden.
Die Auswahl der Speisen ließ keinen Wunsch offen, wobei Annabelle die besonderen Vorlieben eines jeden Gastes berücksichtigt hatte. Auf wagenradgroßen, beschlagenen Silbertabletts rangen die appetitanregendsten Köstlichkeiten um Aufmerksamkeit: knusprig gebratene, ganze Hühner, verschiedene geräucherte Fische, kunstvoll gestaltete Amuse-Gueule (fast zu schön zum Verzehren), alle möglichen Arten von kalten und warmen Salaten, eine umfangreiche Auswahl Vor- und Nachspeisen vom Feinkosthändler, abgerundet von einer verlockend glänzenden Schokoladentorte und einem selbstgebackenen englischen Kastenkuchen. Mehrere Silberkübel mit eisgekühlten Getränken und saftig-reifes Obst, das liebevoll in silbernen Etageren arrangiert war, durften auch nicht fehlen.
Klassische Musik, die leise aus einem in den Büschen verborgenen CD-Spieler erklang, stimmte die gleichzeitig eintreffenden Gäste dezent auf die bevorstehende Zeremonie ein.
»Wie originell«, rief Annabelle aus, als Miriam und Pit im Partnerlook erschienen. Ihr Oberteil bestand aus demselben feinen lindgrünen, blütenbestickten Stoff wie Pits Hemd, und seine lange maßgeschneiderte Jacke war aus dem gleichen, schweren dunkelgrünen Brokatstoff wie ihr weit fallender, knöchellanger Rock. Die Farbe unterstrich ihre braun gebrannte, sommersprossige Haut und harmonierte perfekt mit den wilden kastanienbraunen Locken, die sie stilgerecht in einer Hochgesteckfrisur gebändigt hatte. Miriams vollendete Schönheit versetzte Annabelle immer wieder in Erstaunen. Manchmal schwang sogar ein bisschen Eifersucht mit, denn die erste Sandkastenliebe ihres Mannes Lothar war mit ihren ein Meter achtzig und den ausgeprägt weiblichen Kurven das genaue Gegenteil von Annabelle. Beruhigend war, dass die rassige
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