Seidenfpade
Asiaten galt es als schlimme Beleidigung, sich bei Tisch die Zähne zu säubern, so ähnlich wie für einen Europäer das Furzen während der Mahlzeit.
Liu genoß es, den Europäern und Amerikanern seine Verachtung zu zeigen, aber auf eine ihnen verborgene Weise. Also konnte er gleich zweimal über sie lachen.
Das war eine sehr asiatische Freizeitbeschäftigung, wie Tai Chi Chuan, die anmutige, langsame Kampfsportart, mit der man al-lerdings einem Menschen in Sekundenschnelle das Genick brechen konnte.
Katja wußte um die Nützlichkeit, zu schwach oder zu lächerlich zu erscheinen, um eine Bedrohung darzustellen. In ihren Augen kam das weiblicher Taktik gleich: Subtilität statt roher Muskelkraft.
Deshalb gab sich Katja auch solche Mühe, Tony Liu für die Harmony zu gewinnen. Tatsächlich war er der wahre Grund für diese ganze Weihnachtsscharade. Er sollte ein Geschenk erhalten, das ihn beeindrucken würde, ohne die empfindlichen Egos der anderen Kerle zu treffen.
In Tony Liu steckte weit mehr, als er die Welt je wissen ließ. Er war Anführer des Himmel-und-Erde-Tong, einer Organisation, die seit mehr als drei Jahrhunderten bestand. Sie verfügte über einen Schmugglerring, der Tausende von Chinesen in den Westen schleuste.
Überdies hatte er durch sein legales Familienunternehmen immensen privaten Reichtum angesammelt. Seine Firma produzierte und verkaufte Früchte und Gemüse in sämtlichen Chinatowns der Welt. Die Kombination aus technischem Geschick und einem globalen, legitimen Verteilernetz würde einer delikaten Vereinigung wie der Harmony unendliche Dienste erweisen.
Was die männlichen Prinzipale der Harmony jedoch nicht erkannten - und Katja schon - war, daß Liu den Kontakt zwischen einer riesigen Organisation chinesischer Gangs und dem Westen hersteilen konnte.
Der Himmel-und-Erde-Tong lieferte Luxusautos und andere Schwarzmarktware an regionale Zwischenhändler auf dem chinesischen Festland. Festlandkommissare hießen ihn in ihren Büros und an ihren Tafeln willkommen. Selbst Hongkongs Triadenbosse zollten Liu Respekt - denn sie hatten begriffen, daß er, was Skrupellosigkeit und Gerissenheit betraf, durchaus einen ebenbürtigen Partner abgab.
Tony Liu konnte den westlichen Mafiabossen der Harmony großes Leid oder große Profite bescheren, je nachdem, auf welcher Seite er stand.
Doch selbst sechs Monate nachdem seine provisorische Mitgliedschaft in der Harmony besiegelt wurde, hielt Tony Liu grinsend und zähnepickend Distanz zu den übrigen Insidern.
Für Jose de la Pena, Giovanni Scarfo und den Rest der Männer im Pavillon war Tony Liu bloß ein lächerlicher kleiner Asiate mit einer Kette von Spielsalons und Opiumhöhlen in den Chinatowns der Welt, der darüber hinaus den asiatischen Gemüsemarkt kontrollierte. Soweit es die Männer der Harmony betraf, betrachteten sie Liu als Bauern in ihrer Halbgötterwelt.
Katja mußte beinahe lächeln, wenn sie an ihren nächsten Schritt dachte. Als Tony Liu an die Reihe kam, ging Katja selbst zu der Socke am Kamin und überbrachte sie ihm höchstpersönlich.
»Mr. Liu«, sagt Katja mit einem anmutigen Lächeln und einem ebenso unwiderstehlichen Knicks, »dies ist ein kleines Zeichen unserer Wertschätzung für Sie.«
Für eine Sekunde wirkte Tony Liu unbehaglich. Das diffuse Grinsen erfror auf seinem runden, bartlosen Gesicht. Eigenartig zögernd nahm er die Socke an.
Liu hatte die Geschenke der anderen gesehen. Giovanni Scarfo, der Italiener, der immer in tadellosem Anzug erschien, hatte eine dreikarätige, diamantene Krawattennadel erhalten, die er sofort an seinem Designerschlips befestigte.
La Pena, ein passionierter Angler, wedelte hämisch mit den Schlüsseln zu einem brandneuen Grady White Offshore Cruiser, der an der privaten Anlegestelle des Anwesens auf ihn wartete.
Sallie Spags, der Chicagoer Gangster, konnte die Augen kaum von dem kitschig-geschönten Ölbild, das Katja nach Fotografien von ihm hatte anfertigen lassen, abwenden.
Die übrigen Geschenke waren ebenso kostspielig und darauf abgezielt, den jeweiligen Empfänger gebührend zu beeindrucken.
Liu wußte um die Wichtigkeit und Macht von Schmeichelei. Sich selbst indessen hielt er für immun dagegen.
Aber gegen das Lächeln der außergewöhnlich schönen Kaukasierin Katja Pilenkowa war Liu nicht ganz immun. Seine männliche Eitelkeit wollte durchaus wissen, was für ein Geschenk sie wohl für ihn ausgewählt haben mochte.
Die Socke fühlte sich beinahe leer an.
Tief
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