Seidenfpade
Büchertüte.
»Schöntagnoch«, sagte sie mechanisch, obwohl es schon fast einundzwanzig Uhr war.
Cassandra steckte die Bücher in ihre lederne Schultertasche, hängte sie sich über und wandte sich zum Ausgang. Einen Moment stand sie unschlüssig auf dem Gehsteig und überlegte, ob sie nun zu Fuß heimgehen oder ein Taxi rufen sollte.
Die leuchtende, runde Scheibe des Vollmonds ging über den Bäumen des Rock-Cree-Parks auf. Der herbe Geruch verbrannter Blätter hing in der Luft.
Kalt, aber belebend, dachte sie.
Sie kam gerade von einem Tai-Chi-Kurs, den ein Mitglied der Interessensvereinigung der Volksrepublik China abhielt. Daher fühlte sie sich wie neugeboren, und all ihre Sinne waren geschärft. Sie hatte eine einfache Hose und einen Blazer an und trug bequeme Halbschuhe.
Ein Spaziergang wäre jetzt tickety-boo, also quasi astronomisch, wie Gillie sagen würde, dachte Cassandra lächelnd.
Ihr Lächeln erstarb bei dem Gedanken daran, was Gillespie davon halten würde, daß sie zu Fuß allein durch die Nacht marschierte.
Andererseits erwartete sie ihn nicht vor vierundzwanzig Uhr zurück. Er würde müde und erschöpft sein, aber auch etwas zu essen brauchen und ein wenig Zeit zur Entspannung.
Cassandra hatte ein leichtes Abendessen bestellt, das man ihnen servierte, bevor sie sich auf ihre beiden nebeneinanderliegenden Zimmer zurückzögen.
Solange ich vor Gillie nach Hause komme, sagte sich Cassandra, muß ich mir auch keine Standpauke über die Gefahren der Stadt im allgemeinen und insbesondere im Dunkeln - ohne ihn! - anhören.
Schon seit Jahren zankten sie sich deswegen. Doch bis jetzt weigerte Cassandra sich standhaft, einen Bodyguard in ihre Privatsphäre einzulassen. Das hieß, außer Gillespie natürlich.
Cassandra wandte sich in südliche Richtung, die gutbeleuchtete Connecticut Avenue hinunter. Kurz darauf trat ein großer Mann aus dem Schatten eines Hauseingangs. Er war ihr nicht nahe genug, um eine Bedrohung darzustellen.
»Guten Abend, Botschafterin«, sagte er freundlich.
Cassandra drehte sich um und erkannte ihn sofort.
Ilja Kasatonin.
Da Kasatonin sah, wie sich Cassandras Pupillen bei seinem Anblick weiteten, wußte sie also, wen sie vor sich hatte.
»Wenn Sie ganz ruhig bleiben, geschieht Ihnen nichts«, sagte er leise. »Sie sollten jedoch wissen, daß ich das Leben von Sergeant-Major Gillespie in Händen halte.«
»Das bezweifle ich.« Cassandra reagierte äußerst abweisend.
Kasatonin hob die rechte Hand. Cassandra erkannte ein kleines Zelltelefon. Das rote Statuslicht blinkte hektisch, was zeigte, daß die Verbindung offen war.
»Ich hätte mich schon früher an Sie gewandt«, erläuterte Kasatonin, »aber wir haben den Sergeant-Major heute leider einmal verloren.«
»Ja, er ist schwer zu fassen, der Sergeant-Major«, sagte Cassandra in beiläufigem Ton. »Sie können ihn eigentlich gar nicht gefunden haben.«
Dann wartete sie und unterdrückte ihre eiskalte Angst, die sich nun wie mit kantiger Faust in ihrem Magen breitzumachen versuchte.
»Wir haben ihn gefunden«, insistierte Kasatonin. »Er ist im Moment in Miami.«
»Das sind auch eine Menge anderer.«
»Aber nicht alle warten auf einen Rückflug nach Washington D.C.«
Cassandra hob lediglich argwöhnisch die kastanienbraunen Augenbrauen und wartete ab.
»Sie sind skeptisch«, meinte Kasatonin. »Das verstehe ich. Augenblick, ich werde Ihnen genau sagen, was er gerade tut.«
Kasatonin hob das Telefon an sein Ohr und sprach auf russisch etwas in den Hörer.
Cassandra ließ es sich zwar nicht anmerken, aber sie verstand jedes Wort. Er bat jemanden, ihm Gillespies Aktivitäten zu beschreiben.
»Man sagte mir«, sagte Kasatonin auf englisch zu Cassandra, »daß er sich gerade eine Brezel an einem Imbißstand gekauft hat. Etwas Gelbes - Senf vielleicht? - ist darauf.«
Cassandra hoffte inbrünstig, daß ihr Gesichtsausdruck nichts von ihren Gefühlen verriet. Als Vegetarier fand Gillespie auf Flughäfen kaum je etwas Eßbares. Außer Brezeln.
»Er liest ein Buch mit weichem Einband«, fuhr Kasatonin fort. »Ein Taschenbuch, so sagt man doch, nicht wahr?«
Cassandra starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
»Der Titel des Buches lautet...« Kasatonin hielt inne.
Er knurrte eine Frage ins Telefon.
»Culloden?« wiederholte er für Cassandras Ohren. »Gibt es ein solches Buch?«
Cassandras Herz setzte einen Schlag lang aus. Sie antwortete mit einem knappen Kopfnicken. »Ein Roman von John Prebble!« Sie
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