Seidentanz
es wohl gewesen sein.«
Kunio verstummte mit einem Mal; ich tauchte aus dem Traumzustand auf, in den mich seine Schilderung versetzt hatte.
»Und dann?« fragte ich.
Er berührte meine Hand.
»Komm!«
Eine Zeitlang wanderten wir stumm durch das Unterholz.
Der Boden zwischen den Bäumen stieg an. Das Rauschen des Wassers kam näher. Sonnenflecken huschten über den Boden.
Im Gebüsch leuchteten kleine, wilde Erdbeeren mit ihrem herben Duft. Harz tropfte wie Gold aus den schuppigen Rinden, und Farne aus fernen Weltenaltern wucherten im Halbschatten.
Die Steine waren trocken, bis ich auf einmal Schlamm unter den Sohlen fühlte. Das Wasser rieselte zwischen den Steinen hindurch. Kunio wies auf den Bach, der eine Seite des Gesteins völlig geglättet hatte.
»Mizugori – Waschungen – sind bei uns seit Jahrtausenden Brauch. Ich wußte nur wenig davon. Aber an dieser Stelle blieb ich immer stehen, wusch mir Gesicht und Hände und trank von dem Wasser. Niemand hatte mir gesagt, daß ich das tun mußte.
Es schien mir irgendwie notwendig.«
Er kniete nieder, tauchte beide Hände in das Wasser, besprengte sich das Gesicht und trank aus der hohlen Hand. Ich tat es ihm nach, das eiskalte Wasser schmeckte nach Erde und Wurzeln.
»Wir sind gleich da«, sagte Kunio.
Der Hang wurde plötzlich steil. Naturgewalten hatten Steine losgerissen, über die wir klettern mußten. Meist lag auf einer Klippe ein schräger Gesteinsblock und darauf noch einer und noch einer, alle moosbewachsen und mit Schlingsträngen verschnürt. Doch der Aufstieg war leicht; wir erklommen die Ge-röllhalde schnell. Den höchsten Punkt bildete eine föhrenum-wachsene, fast kreisrunde Lichtung. Unwillkürlich fühlte ich mich von dem Anblick betroffen. Die kupfernen Stämme glichen Türmen, die sich aus dem Schattenreich der Vorzeit steil in den Himmel reckten. Vor Jahrtausenden waren sie aus einem Samenkern entstanden; nun krallten sie ihre mächtigen Wurzeln tief in die lebende Erde, gruben durch Felsen und Höhlen nach Wasser. Sie atmeten die Sonne ein, schüttelten sich in Winterstürmen. Einen Baum hatte der Blitz getroffen. Er war völlig ausgebrannt und verwest; und doch regte sich geheimes Leben in ihm: Zarte grüne Knospen auf den Wurzeln zeigten, daß er unsterblich war.
Am Fuß dieser Bäume, mit ihnen verwachsen, ragte Gestein aus der Erde, abgeschliffen, vom Alter poliert. Hoch über den Kiefern leuchtete der Himmel, aber die Sonne hatte ihren höchsten Punkt überschritten; die Strahlen waren weitergewandert, das Gestein lag im Schatten. Ein seltsamer grüner Schein erfüll-te die Lichtung; er kam von den Moosen, die wie ein Teppich die Felsen überwucherten. Wir traten näher an die Felsen heran.
Kunios Stimme klang jetzt gedämpft. »Das ist ein Iwakura –
ein Göttersitz. Auf den Nord- und Südhängen gibt es mehrere davon. Dieser ist der älteste und größte.«
Unter den Felsblöcken sickerte die Quelle. Das Wasser drang aus der feuchten Erde, die hier porös schien, und sprühte wie grünes Kristall über Moose und Farne. Weiter unten sammelte sich das Rinnsal in einem Bett aus Kieseln und sprudelte den Hang hinab. »Der Bach versiegt oder verschlammt selbst bei Dürre nie«, sagte Kunio. »Er fließt an unserem Haus vorbei und bewässert die Reisfelder im Dorf.«
Eine Shimenawa – eine heilige Schnur – war mit einem besonderen Knoten an zwei Bäumen befestigt. Sie bestand aus einem alten Strick, an dem zerfetzte Stoffstreifen hingen. Doch etwas anderes erregte meine Aufmerksamkeit: Zwischen zwei Steinen steckte ein uraltes Schwert. Auf dem geschwärzten Stahl waren noch Schriftzeichen sichtbar. Fasziniert beugte ich mich über die Waffe, die wie ein gespenstisches Gewächs aus den Felsbrocken ragte.
»Woher kommt dieses Schwert, Kunio?«
Die Überraschung verschlug mir fast die Sprache. Kunio blickte mich amüsiert an.
»Mein Vorfahre Kaoru Harada hat es als Votivgabe geschmiedet. Zum Dank dafür, daß seine Frau und seine zwei Kinder ein Erdbeben überlebten.«
Ich besah mir das Schwert von allen Seiten.
»Wie prachtvoll erhalten es noch ist!«
»Es ist ein No Tachi, ein sogenanntes ›Moorschwert‹ mit sehr langer Klinge, typisch für das vierzehnte Jahrhundert. Der Stahlmantel ist besonders hart. Kenner sehen das.«
»Und was bedeutet die Inschrift?«
»Hier steht: ›Dieses Werk ist im Einklang mit der Seele.‹ Da die Waffe alles Unreine von der heiligen Stätte abwehren sollte, hat mein Vorfahre seinen
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