Sein anderes Gesicht
für den Mord. Nein, keine Erklärung, denn sie hat ja den Bullen nichts davon gesagt. Ich lasse mich auf der Sofakante nieder und konzentriere mich, während ich den befleckten Teppich betrachte.
Angenommen, der Mörder von Jesus-Marlene weiß, dass Maeva ihn gesehen hat. Aber wenn sie ihn nicht kennt, was kann ihm das ausmachen? Sie hat selbst gesagt, dass sie nur eine Gestalt mit Kapuze gesehen hat. Um sich zu entschließen, hierher zu kommen und sie zu töten - das heißt, ein weiteres Risiko einzugehen -, muss Maeva ihn gekannt haben . Ja, das ist es: Maeva kannte ihn, darum kam er so leicht herein und deshalb machte sie ihm etwas zu essen. Es war in allen Fällen ein und derselbe Mörder, und dieser Mann hat Maeva getötet, um sich zu schützen, weil er sich nicht sicher war, ob sie ihn erkannt hatte.
Ich springe auf. Ja, das macht Sinn.
Nein, verdammt noch mal, wenn der Mann Maeva kannte, wusste er, dass sie ein Transvestit ist, und dann hätte er auch wissen müssen, dass Jesus ein Transvestit war; warum hätte er ihn angreifen sollen, wenn er es nur auf »richtige« Frauen abgesehen hat?
In meinem Kopf dreht sich alles. Nachdem ich mich noch einmal umgesehen habe, schleiche ich mich leise aus der Wohnung. Sogleich öffnet sich Louisettes Tür.
»Hat die Polizei Sie nicht gefunden? Ich hatte Angst«, flüstert sie.
Ich erkläre ihr, ich hätte mich auf dem Balkon versteckt und müsste jetzt gehen. Ich reiche ihr den Schlüssel, aber sie murmelt:
»Nein, behalten Sie ihn. Ich will diese Wohnung nie wieder betreten.«
Ich danke ihr und sage, ich käme wieder vorbei, um sie auf dem Laufenden zu halten. Sie versichert mir, ich sei immer willkommen, und kehrt leicht schwankend in ihre Wohnung zurück.
Ehe ich auf die Straße trete, sehe ich mich um. Offenbar keine versteckten Polizisten, also verlasse ich das Haus. Ich bin aufgeregt. Ich muss unbedingt begreifen, was geschehen ist.
KAPITEL 8
Die Sonne steht tief am Himmel, im Osten ziehen sich dicke Wolken zusammen, die eine neue Schlechtwetterfront bedeuten.
Lange gehe ich durch die Menge der eiligen Menschen, lasse mich vom Zufall treiben, durchdenke alles, was ich gehört habe.
Und immer wieder stoße ich auf dieselben Probleme. Es gibt keine Erklärung dafür, warum Maeva im Sterben meinen Namen an die Wand geschrieben hat. Und es gibt keine Erklärung dafür, warum ihr Mörder beschlossen hat, mich zu belasten, außer ich kenne ihn. Überlegen wir … Ich nehme meinen Gedanken von vorhin wieder auf: Maeva und ich kennen den Mörder. Er gerät in Panik, als er Maeva in dem Lastwagen sieht, während er sich von Marlenes Leiche entfernt. Aus Angst, dass sie ihn wieder erkannt haben könnte, entschließt er sich, sie umzubringen, dann schiebt er mir die Schuld in die Schuhe. Soweit ist alles klar.
Aber das Problem ist, dass jeder, der Maeva und mich kennt, weiß, dass wir keine richtigen Frauen sind, und auch hätte wissen müssen, dass Marlene ebenfalls ein Transvestit war. Also muss man unter den Leuten suchen, die uns zwar kennen, aber nicht besonders gut. Also nicht unter den Stammkunden.
Warum nicht?
Herausgerissene Zungen. Behandschuhte Hände, die sich in einen vor Entsetzen und Schreien geöffneten Mund schieben, die Zunge ergreifen und fest an ihr ziehen. Ströme von Blut, verzweifelter Kampf der Opfer. Ob es einfach ist, eine Zunge herauszureißen? Johnnys Hände in meinem Mund, die meine Zunge umklammern, erstickend, das Latex, das meinen Gaumen berührt, fast sexuell. Das Herausreißen, die Wunde .
Johnny. Und wenn er es war. Für einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken. Und dann erinnere ich mich an Youssef, der mir erzählte, Johnny habe Bull nach Hause gebracht. Genau zu der Zeit, als Maeva ermordet wurde. Johnny mag ja mein Gott sein, aber ich glaube nicht, dass er über die Gabe verfügt, allgegenwärtig zu sein. Das bliebe zu überprüfen - allein schon aus Prinzip.
Ich setze mich auf einen Felsen am Meer und ziehe die Papiere aus der Tasche, die ich bei Maeva eingesteckt habe. Fotos von einer Lagune. Das Bild einer Frau, um deren Taille ein sehr junger und dicker Raymond, das Gesicht zu einem triumphierenden Lächeln verzogen, den Arm gelegt hat. Eine Frau? Na ja, jeder macht mal Fehler. Hier ein Baby, dessen Füßchen vor dem Objektiv strampeln. Eine Frau? Ein Baby? Sicherlich eine Schwester. Dann Freundinnen aus Nizza. Durchgestrichene Gesichter. Ich als junges Ding im roten Ledermini. Welch grauenvolles Make-up!
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