Sein Anteil
den mit einem schwarzen D gekennzeichneten gelben Nummerschildern der parkenden Autos entnahm.
Vielleicht hätte er auch Diplomat werden sollen, dachte Willem. Man wurde nicht reich dabei, aber man verdiente genug. Der häufige Wohnortwechsel hätte ihm gefallen. Schließlich hing er an nichts. Die äußeren Veränderungen hätten ihn von der Ereignislosigkeit seines sonstigen Daseins abgelenkt. Aber für eine diplomatische Karriere war es zu spät.
Sein schlechtes Gewissen trieb Willem weiter. Er konnte nicht den ganzen Tag verbummeln, wie er so viele Tage verbummelt hatte. Er beschleunigte seine Schritte und verließ das reizvolle Viertel, ging schnellen Schrittes die Kensington High Street hinunter und rechts in die Phillimore Gardens hinein, die Straße der Hewitts. Nur hier, glaubte Willem, könnte er letztlich eine Antwort darauf finden, wo am besten die Entführung ihren Ausgang nehmen sollte.
Um nicht aufzufallen, ging Willem zügig die Straße entlang. Im Haus mit der nachtblauen Tür war keine Bewegung zu erkennen. Er konnte schlecht stehen bleiben, also ging er weiter die Straße entlang und in den Holland Park hinein. Er dachte angestrengt nach. Gäbe es eine Möglichkeit, das Kind ohne Begleitung aus dem Haus zu locken? Ihm fiel keine ein. Oder eine Möglichkeit, im Park an das Kind heranzukommen? Wenn Hewitt dabei wäre? Nein. Zu gefährlich. Und wenn Anne-Marie dabei wäre? Die Vorstellung, Anne-Marie könnte Zeugin der Entführung ihrer Tochter werden, war ihm unerträglich. Das dürfte nicht geschehen. Auf gar keinen Fall.
Zum ersten Mal bemerkte Willem, dass er außerhalb seiner vier Wände laut zu sich selbst sprach. Die Polizisten hatten offenbar doch recht gehabt. Er wurde merkwürdig.
Er steuerte geradewegs auf das Parkcafé nahe am Kinderspielplatz zu. Der lange Spaziergang hatte ihn hungrig gemacht. Mit einem Sandwich und einem Milchkaffee auf dem Tablett setzte er sich an einen der Holztische und schaute in den grau-düsteren Himmel. Es würde bald regnen. Gott sei Dank. Die seit Tagen andauernde Schwüle hätte er nicht länger ausgehalten. Schon kündigten einzelne Tropfen den erlösenden Schauer an.
Binnen Sekunden, so schien es ihm, war der Spielplatz entvölkert. Von überall her rannten Menschen herbei, um unter den Steinbögen des Cafés Schutz zu suchen. Da öffnete sich der Himmel mit einem gewaltigen Donner. Willem griff sich nur rasch das Sandwich, Kaffee und Tablett ließ er stehen, und flüchtete zu den anderen unter die Bögen. Auch sie schienen den Wolkenbruch als Erlösung zu empfinden. Eine ansteckende Heiterkeit breitete sich aus.
Da kam einsam eine Nachzüglerin angelaufen. Eine junge Frau. Anne-Marie! Sie lief völlig durchnässt direkt auf ihn zu. Er musste beiseite springen, so kam es ihm jedenfalls vor, sonst hätte sie ihn umgerannt. Anne-Marie stand nur Zentimeter von ihm entfernt, ihm den Rücken zugewandt. Jeden einzelnen der silbernen Tropfen konnte er sehen, der ihre nackten, leicht gebräunten Arme herunter rann. Ihre Haare hatten sich zu winzigen Löckchen zusammengezogen und dufteten nach dem frischen Regen. Willem atmete schwer. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Sie trug nur ein ärmelloses weißes Tennishemd, und blaue Shorts, die sich eng um ihre schmale Taille schlossen. Anne-Marie beugte ihren Kopf nach unten, um sich mit den Händen die Haare zu trocknen. Dann warf sie den Kopf zurück, und ihr feuchtes Haar streifte einen köstlichen Moment lang sein Gesicht.
»Verzeihung!«, sagte sie in einer halben Drehung zu ihm hin, ohne Willem aber wirklich anzusehen.
»Macht nichts!«, versuchte er möglichst natürlich und freundlich hervorzubringen.
Er wusste nicht, ob Anne-Marie ihn überhaupt gehört hatte. Nein, keine Reaktion. Sie beachtete ihn nicht. Was sollte er tun? Er verbat sich zu denken. Nur ihre Nähe genießen, sagte er sich. Anne-Marie warf einen Blick auf ihre zierliche Armbanduhr.
»Wann hört der Regen endlich auf?«
Sprach Anne-Marie zu sich selbst oder zu ihm? Glücklicherweise, hätte er gerne entgegnet, regnet es noch. Doch Willem schwieg.
Wie ein unruhiges Kind wechselte Anne-Marie von einem Bein aufs andere. Und plötzlich rannte sie wieder los, mitten durch den Regen. Willem schaute ihr nach, dann auf seine Uhr. Aber sicher, es war schon zwei Uhr durch, und sie musste Patricia von der Schule abholen. Hätte er doch seinen Schirm dabei, der wie eine traurige Trophäe zu Hause in seinem Zimmer stand! Er hätte Anne-Marie
Weitere Kostenlose Bücher