Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Koffeintabletten ein und spülte sie mit dem letzten Rest Wasser in seiner Feldflasche hinunter. Das Glück blieb ihm treu. Schon nach etwa anderthalb Kilometern erreichte er eine kleine Bucht voller Ruderboote. Sie wurden wahrscheinlich zum Fischen benutzt – Einmannboote, ausgestattet mit Angelschnüren oder einem Netz. Manche von ihnen tanzten, mit Leinen an mehreren großen Bojen festgemacht, im Wasser, andere lagen auf dem kiesigen Strand. Ein alter Mann war gerade dabei, im Licht einer Laterne sein Angelgerät in eines der an Land liegenden Boote zu laden. Reeve schaute sich um, sah aber sonst niemanden. Bald würde es dämmern, und dann würden die anderen Fischer ebenfalls kommen. Der alte Mann wollte offenbar die Rushhour umgehen.
Als er Reeve auf dem Muschelgrit näher kommen hörte, blickte der Mann von seiner Arbeit auf. Er bereitete sich gerade auf ein schmales Lächeln und irgendeine Bemerkung über einen weiteren Frühaufsteher vor, sah dann aber den Soldaten, der sein Gewehr auf ihn richtete, und riss Augen und Mund auf.
Reeve sprach den Mann leise auf Spanisch an, über die Wörter stolpernd. Er machte seine Erschöpfung dafür verantwortlich. Der Mann schien ihn zu verstehen. Er schaffte es nicht, die Augen vom verkrusteten Blut auf Reeves Armen und Brust abzuwenden. Er war ein Mann, der schon Blut gesehen hatte und es selbst so, rostfarben eingetrocknet, als solches erkannte.
Reeve erklärte, was er brauchte. Der Mann flehte ihn an, ein anderes Boot zu nehmen, aber Reeve musste den Mann mitnehmen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass er nicht, sobald die anderen Fischer auftauchten, Alarm schlagen würde.
Was Reeve nicht sagte, war, dass er zu müde war, um zu rudern. Das war ein weiterer Grund, warum er den Alten brauchte. Am Himmel war noch kein Licht zu sehen, aber die Dunkelheit war nicht mehr so schwarz, wie sie gewesen war. Reeve hatte keine Zeit mehr zu verschwenden. Er richtete das Gewehr auf den Mann, da er vermutete, dass ein Dolch nicht ausgereicht hätte, um jemanden einzuschüchtern, der tagtäglich Fische ausnahm. Der Alte nahm die Hände hoch. Reeve befahl ihm, das Boot ins Wasser zu schieben. Der Mann gehorchte. Dann stiegen sie beide ins Boot, und der Alte begann zu rudern; schon bald hatte er seinen Rhythmus gefunden und legte sich kräftig in die Riemen. Er hatte Tränen in den Augen, und sie kamen nicht bloß vom Wind. Reeve wiederholte, dass er nicht vorhabe, ihn zu töten. Er wolle lediglich aufs offene Meer gerudert werden.
Je weiter sie kamen, desto sicherer fühlte sich Reeve, aber auch desto ausgelieferter. Also kamen ihm Zweifel, ob so ein kleines Boot überhaupt weit genug hinausfahren konnte, um von einem Rettungsschiff gesichtet zu werden. Er holte den Metallzylinder heraus, in dem sich die Notfunkbake befand, und schraubte den Deckel ab. Die Bake war leicht zu bedienen. Reeve schaltete sie ein, sah, dass das rote Licht anfing zu blinken, und stellte sie neben sich auf die schmale Sitzplanke.
Der Fischer fragte, wie weit sie hinausfahren würden. Reeve gestand, dass er es auch nicht wüsste.
»Es heißt, es hätte in der Nähe des Flughafens Schüsse gegeben«, sagte der alte Mann. Er hatte eine belegte Raucherstimme.
Reeve nickte.
»Marschiert ihr bei uns ein?«
Reeve schüttelte den Kopf. »Aufklärung«, sagte er. »Das war alles.«
»Sie wissen ja, dass Sie den Krieg gewonnen haben«, sagte der Mann ohne jede Verbitterung. Reeve starrte ihn an und merkte, dass er ihm glaubte. »Ich hab’s im Fernsehen gesehen. Vielleicht heute, vielleicht morgen ist alles vorbei.«
Reeve merkte, dass er lächelte, dann lachte und den Kopf schüttelte. Er war zweiundsiebzig Stunden lang ohne Kontakt gewesen. Wahnsinnseinsatz, dachte er. Schwachsinniger Wahnsinnseinsatz.
Sie fingen an, freundlich miteinander zu plaudern. Vielleicht glaubte der Alte nicht, dass ein lächelnder Mann ihn töten könnte. Der Alte erzählte von seiner Jugend, seiner Familie, der Fischerei, und meinte dann, es sei verrückt, dass Verbündete wie Großbritannien und Argentinien, zwei große, reiche Länder, wegen so etwas Wertlosem wie den Malvinas miteinander Krieg führten. Das Gespräch war ziemlich einseitig; Reeve war dazu ausgebildet worden, nie irgendetwas zu verraten. Wenn er redete, dann blieb er immer bei allgemeinen Äußerungen, und manchmal gab er auf die Fragen des Alten überhaupt keine Antwort.
»Weiter raus fahr ich normalerweise nicht«, sagte der Alte
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