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Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Titel: Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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wünschte er sich, er hätte daran gedacht, Handschuhe mitzunehmen. Er hauchte sich auf die Finger, um sie zu wärmen, dann steckte er sie in die Tasche der Öljacke und rieb sie aneinander, bis er wieder Gefühl in sie hineinbekam.
    Er dachte an nichts anderes als an die Überfahrt. Er konnte es sich nicht leisten, ihr weniger als seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu widmen.
    Endlich sah er Land, und als er nach Süden spähte, konnte er die kleine Insel Stuley ausmachen – was bedeutete, dass er unmittelbar südlich der Eynort-Mündung war. Er hatte die ganze Zeit gegen den Wind angesteuert und stellte jetzt befriedigt fest, dass seine Kurskorrekturen richtig gewesen waren. Das Wasser war schon viel weniger kabbelig, und als er in den Meeresarm einfuhr, ließ der Wind schlagartig nach. Er fuhr so weit in den Loch hinein, wie es überhaupt ging. Die ersten Schritte an Land waren zugleich eine Erleichterung und verwirrend. Es kam ihm so vor, als stünden seine Füße nicht direkt in Berührung mit der Erde, als hätte die Schwerkraft ihre Macht verloren. Er wusste, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde. Sein Gehirn spielte ihm lediglich einen Streich.
    Reeve nahm seine Tasche und marschierte los, die Straße entlang.
    Er kam an drei, vier Kleinhöfen vorbei, aber in den Katen rührte sich nichts. Zu dieser Uhrzeit waren außer den Nachtvögeln und -tieren wohl höchstens noch ein paar Schafe wach. Die Straße würde bald die A865 kreuzen. Sie verlief entlang der ganzen Südseite des schmalen Loch Ollay und stieß kurz hinter dessen Westzipfel auf eine Querstraße. Links ging es nach Ormiclate; rechts nach Stoneybridge und zu seinem Haus. Bei der Landung hatte er auf die Uhr geschaut: Er wollte wissen, wie viel Zeit er für die Strecke brauchen würde. Er schritt sie außerdem aus. Er hielt die Knotenschnur in der Hand und zählte seine Schritte. Nach jeweils hundert Schritten ließ er einen Knoten zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten. Am Ende der Schnur würde er dann das Resultat mit der Länge seines Schritts multiplizieren und dadurch ausrechnen, wie weit er ungefähr gelaufen war; so konnte er grob abschätzen, wie schnell er vorankam.
    Er brauchte diese Information eigentlich nicht. Was er brauchte, war das Gefühl, wieder ein Soldat zu sein. Denn bald würde er, so oder so, auf Jay treffen, und dann musste er geistig voll einsatzbereit sein. In der wenigen Zeit, die ihm blieb, konnte er nicht viel tun, um seine Fitness und Körperkraft zu steigern – die Jahre hatten nun einmal ihre Spuren hinterlassen. Nach dem, was Reeve von ihm gesehen hatte, war Jay vermutlich stärker als er: Der Versuch, ihn mit bloßer Körperkraft zu besiegen, wäre aussichtslos gewesen. Reeves einzige Hoffnung bestand darin, geistig stark zu werden; er musste seine Einstellung vervollkommnen und seine Instinkte schärfen. Er musste genauestens planen und nach dem Lehrbuch vorgehen, und damit sofort anfangen.
    Dank seiner guten Ortskenntnisse kam er schnell voran. Er hätte noch ein paar Minuten einsparen können, wenn er querfeldein gelaufen wäre, aber dann hätte er riskiert, sich zu verlaufen, und außerdem beanspruchte das Laufen auf der Straße die Muskeln weniger als unwegsames Gelände.
    Dem Haus selbst näherte er sich mit äußerster Vorsicht.
    Zunächst umrundete er es in einem Abstand von einem knappen Kilometer, dann ging er näher heran und machte eine zweite Runde. Falls jemand da war, der nach ihm Ausschau hielt, hatte er sich äußerst gut versteckt. Er kannte Polizisten und wusste, dass sie dafür nicht ausgebildet waren. Zum einen legten sie Wert auf ihre Bequemlichkeit; zum anderen fehlte ihnen die nötige Geduld. Im Haus konnte vielleicht jemand sein, aber er wäre jede Wette eingegangen, dass er hier draußen allein war.
    Lautlos, tief geduckt, betrat er das Grundstück und hielt sich im Schatten der Umfassungsmauer. Dicht bei der Mauer zu bleiben, hatte auch einen weiteren Vorteil: Auf der bekiesten Einfahrt hätte man seine Schritte gehört, aber entlang der Mauer verlief ein halbmeterbreiter Streifen Erde – ein Zugeständnis an Joan, die den Streifen mit kleinen Blumen und Kletterpflanzen bepflanzt hatte – die Reeve jetzt lautlos zertrat.
    Die Schlüssel, die er brauchte – die Schlüssel des Geiselraums -, hatte er in der freien Hand. Aber die Polizei war schon vor ihm da gewesen. Sie war mit einem Vorschlaghammer auf die Tür losgegangen, und die schien lange tapfer standgehalten zu

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