Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Indizien. Er schraubte die Telefonhörer auf. Jemand hatte die Wanzen entfernt, und er tippte eher auf Dulwater als auf die Polizei.
Da er nicht annahm, dass jemand noch irgendwo mithörte, ging er nach oben und gönnte sich eine schnelle heiße Dusche, die ihm ein stilles Dankgebet für den augenblicklich anspringenden Durchlauferhitzer entlockte. Er ließ im Badezimmer das Licht aus, obwohl er nicht hätte sagen können, warum. Vielleicht einfach, weil es sich lehrbuchmäßig anfühlte.
Er trocknete sich ab und suchte nach sauberen und – vor allem – warmen Sachen. Es gab noch ein paar andere Dinge, die er brauchte, aber die waren in seiner Werkstatt. Rastlos, unfähig, sich irgendwo hinzusetzen, ging er wieder hinauf in Allans Zimmer. Die gelbe Leuchtdiode erregte seine Aufmerksamkeit. Der Bildschirm war schwarz, aber als er die Maus anstupste, erwachte er zum Leben und zeigte ihm den Inhalt des Spiele-Ordners. Da waren ein paar gute Games, die er schon kannte, und dann noch ein paar weitere, die, seit er und Allan zuletzt miteinander gespielt hatten, neu hinzugekommen zu sein schienen.
Und dann sah Reeve das Spiel, das Allan sich von der CD runterkopiert hatte, die von Jim gekommen war. Das Spiel, mit dem Allan nicht weiterkam. Es hieß Prion.
»Jesus«, flüsterte Reeve. Prion wie PrP, wie die üblen Chemikalien, die diesen ganzen Albtraum ausgelöst hatten. Mit relativ ruhiger Hand bewegte er den Mauszeiger auf das Prion-Symbol und startete mit einem Doppelklick das Spiel.
Doch als die Startseite erschien, stand da nichts von Prion. Es sah wie ein ganz normales Computerspiel aus und hieß Gumball Gulch, und genauso hatte es Allan, wie Reeve sich jetzt erinnerte, auch genannt. Was war noch mal die Spielebene, über die Allan nicht hinausgekommen war? Die fünfte? Die sechste?
Reeve brauchte eine Weile, um die Anleitung zu kapieren und ins Spiel hineinzukommen. Wenn er es richtig verstanden hatte, war er eine Schildkröte im Wilden Westen, die man gerade zum Sheriff des Städtchens Gumball Gulch ernannt hatte. Im ersten Level kam er in die Stadt geritten und wurde – nach dem Abschuss der drei Schurken, die den bisherigen Sheriff umgelegt hatten, um ihren Kumpel aus dem Gefängnis zu befreien – zum neuen Sheriff gewählt. Im zweiten Level galt es, einen Banküberfall zu vereiteln. Die Grafik war, soweit Reeve es beurteilen konnte, ziemlich gut, und das Gleiche galt für die Sound-Effekte und die Stimmen.
Nach vielleicht einer halben Stunde hatte er den vierten Level erreicht. Im dritten hatte er sich für die Option entschieden, »Stumpy«, einen einbeinigen Säufer, als Hilfssheriff anzustellen. Stumpy bewachte jetzt die gescheiterten Bankräuber.
Plötzlich hielt Reeve inne. »Was zum Teufel treib ich hier eigentlich?«, fragte er sich. Trotzdem machte er weiter.
Der vierte Level war schwierig. Die Neuwahlen für das Sheriffsamt nahten, und Reeves Popularität lag – nachdem zwei der Bankräuber entkommen waren und die dadurch ausgelöste Schießerei einen unschuldigen Passanten das Leben gekostet hatte – bei lediglich vierzig Prozent. Reeve verlängerte dem Brawlin’ Barroom die Lizenz, was seine Popularität schlagartig auf fünfzig Prozent anhob. Dann aber nahm der Rowdytum-Faktor zu, und bald waren die Gefängniszellen hoffnungslos überfüllt. Reeve beschloss, einen weiteren Hilfssheriff einzustellen, einen Jungen mit einem frischen Gesicht.
»Das ist Rio Bravo «, murmelte er.
Der eigentliche Ärger begann auf dem fünften Level. Die Gefangenen versuchten einen Massenausbruch. Stumpy machte alles dicht und schloss sich mit den Gefangenen ein. Er ließ niemanden, nicht einmal den Sheriff, mehr hinein, was bedeutete, dass Reeve mit einem minderjährigen Hilfssheriff, einer beunruhigten Stadt und einem lynchbereiten Pöbel vor der Tür blieb. Nicht mehr lange, und die entflohenen Bankräuber würden zurückkehren, um Rache zu nehmen. Reeves Waffen und Munition waren natürlich im Gefängnis eingeschlossen.
Und Stumpy wollte das Passwort von ihm wissen.
Reeve probierte ein paar naheliegende Möglichkeiten aus, darunter auch einige, auf die nur ein Rio-Bravo -Fan kommen würde. Dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme und dachte eine Weile nach. Jim hatte den Namen des Spiels in »Prion« geändert. Warum? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wie Marie Villambard gesagt hatte, war Jim ein Vollblutjournalist gewesen. Er hatte ganz bestimmt Unterlagen aufbewahrt.
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