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Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Titel: Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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hauptsächlich über Allan. Sie stellte ein paar Fragen über den Flug, über Jim. Reeves Antworten waren kurz und bündig; Joan würde es Verweigerung nennen – sie hatte seinerzeit ein paar Psychologie-Bücher gelesen. Vielleicht war es wirklich Verweigerung, oder zumindest Vermeidung.
    Aber viel mehr würde er nicht vermeiden können. Heute musste er sich die Leiche ansehen.
    Er frühstückte in einer ruhigen Ecke des Restaurants. Es gab ein Büffet und so viel Kaffee, wie man wollte. Das Hotel schien nicht viele Übernachtungsgäste zu haben, aber ein Schild in der Lobby wies darauf hin, dass im Laufe des Tages eine Konferenz und ein paar Bürgerversammlungen im Hotel abgehalten werden würden. Nach drei Gläsern frischem Orangensaft, etwas Cornflakes und French Toast fühlte er sich zu so gut wie allem bereit. Ja, er fühlte sich so gut, dass er sogar die berechtigte Hoffnung hegte, den Tag zu überstehen, ohne sich übergeben zu müssen.
    Statt sich das Auto holen zu lassen, ging er selbst auf den Parkplatz. Er wollte sich einmal gründlich umsehen. Nachdem das erledigt war, stieg er in den Chevrolet ein und breitete den Stadtplan auf dem Beifahrersitz aus. Er hatte mehrere Punkte umkringelt – seine heutigen Ziele. Das Zentrum des dicksten Kreises war sein Hotel.
    Das grüne Auto stand an der Ausfahrt eines anderen, angrenzenden Parkplatzes. Es bog hinter ihm auf die Fahrbahn und hielt nicht genügend Abstand. Reeve versuchte, den Fahrer im Rückspiegel zu erkennen, aber die Windschutzscheibe war schmutzig. Er konnte lediglich breite Schultern und die Vorderseite eines Stiernackens sehen, und das war’s auch so ziemlich.
    Er fuhr weiter.
    Als Erstes kam das Bestattungsinstitut. Es lag draußen in La Jolla, nicht allzu weit von der Stelle entfernt, wo die Leiche aufgefunden worden war. Das Vestibül war ein Ensemble von cremefarbenem Satin, frischen Schnittblumen und Konservenmusik. Es gab ein paar Stühle, und auf einen davon setzte er sich und wartete, dass man ihn zum Besichtigungszimmer führte. So hatte es der Leichenbestatter mit der geübt gedämpften Stimme genannt: Besichtigungszimmer. Reeve war nicht klar, warum er eigentlich warten musste. Vielleicht bewahrten sie die Leichen woanders auf und schafften sie nur herbei und staubten sie ab, wenn jemand sie sich ansehen wollte.
    Endlich kam der Bestatter zurück und bedachte ihn mit diesem schmallippigen professionellen Lächeln, das keinen einzigen Zahn sehen ließ. Wohl brauchte sich hier niemand zu fühlen. Der Bestatter bat Reeve, ihm durch eine zweiflüglige Tür zu folgen, deren Verglasung mit weiterem cremefarbenen Satin verhängt war. Überall nur gedämpfte Farben. Ja, das Bunteste, was das Etablissement zu bieten hatte, war noch das Gesicht von James Reeve.
    Im Zimmer befand sich ein einziger – selbstredend mit cremefarbenem Satin ausgeschlagener – Sarg. Er stand aufgebockt am Ende eines langen, dunklen Teppichs. Der Leichnam war lediglich in ein Leichentuch gehüllt, was ihm ein seltsam feminines Aussehen verlieh. Das Leichentuch war bis über den Kopf des Toten hochgezogen. Reeve wusste, dass sich sein Bruder die Browning in den Mund gesteckt und die Mündung gegen den Gaumen gerichtet hatte; allzu viel konnte vom Kopf also nicht mehr da sein.
    Sie hatten James’ Gesicht die allererste – wenn auch künstliche – Bräune seines Lebens verpasst; die Wangen und vielleicht auch die bleichen vollen Lippen schienen sogar noch etwas Rouge abbekommen zu haben. Er sah völlig absurd aus, wie eine Puppe aus dem Wachsfigurenkabinett. Aber dass er es war, stand außer Zweifel. Reeve hatte noch immer auf einen Schwindel gehofft, einen ungeheuerlich geschmacklosen Scherz. Vielleicht hatte Jim Probleme, hatte er gedacht, war abgehauen und hatte es irgendwie geschafft, allen weiszumachen, er habe sich das Leben genommen. Aber jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen. Reeve nickte und wandte sich vom Sarg ab. Er hatte genug gesehen.
    »Wir hätten noch einige Hinterlassenschaften«, flüsterte der Leichenbestatter.
    »Hinterlassenschaften?« Reeve ging weiter auf die Tür zu. Er wollte nicht einen Augenblick länger im Besichtigungsraum bleiben. Er war wütend. Er wusste nicht, warum – vielleicht einfach, weil Wut ihm vertrauter war als Trauer. Er kniff die Augen zu und wünschte sich, der Leichenbestatter würde aufhören, so auf ihn einzuflüstern.
    »Persönliche Dinge Ihres Bruders. Eigentlich nur Kleidungsstücke, das, was er anhatte

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