Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Reeve.
»Jim war stinksauer, aber Giles meinte, das wäre für ihn besser so. Ich glaube, das meinte er sogar ehrlich. Er wusste, dass Jim als Freier besser dastehen würde. Nicht finanziell besser, aber dann würden ihm nicht mehr so viele Storys gekippt werden. Er würde mehr Freiheit haben zu schreiben, was er wollte. Und um das zu beweisen, bestellte er bei Jim gleich ein paar Artikel, und er nahm ihm ein paar Storys ab, die dann irgendwo im Innenteil gelandet sind.«
Sie saßen zu einem frühen Lunch in einem indischen Restaurant auf der Tottenham Lane. Es gab ein spezielles »Business-Mittags-Büffet«: Große Silberplatten mit kuppelförmigen Deckeln standen auf blau züngelnden Rechauds. Aber sie sahen ihr Essen lediglich an, schoben es mit der Gabel auf dem Teller herum, kosteten lustlos davon. Sie hatten einfach nur aus der Wohnung rausgewollt.
Dort hatte Reeve Fliss Hornby von Jims Tod erzählt. Er hatte eigentlich vorgehabt, es kurz und übersichtlich zu machen und wann immer nötig zu lügen, aber ohne sein Zutun sprudelte dann doch die ganze Geschichte aus ihm heraus und hinterließ einen galligen Geschmack in seiner Kehle, so, als hätte er sich übergeben.
Sie war eine gute Zuhörerin. Sie hatte mit nassen Augen zugehört und war während der ganzen Erzählung nur einmal aufgestanden – um eine Schachtel Papiertücher aus dem Schlafzimmer zu holen. Dann war sie mit reden an der Reihe gewesen und hatte Reeve erzählt, wie sie sich eines Abends mit Jim und einem Haufen anderer Journalisten in Whitehall getroffen hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie zur Zeit nicht gut drauf sei, dass ihr Lover zu ihrem Ex-lover geworden sei und ihr mit Gewalt gedroht habe.
»Ich meine«, erklärte sie Reeve, »ich kann durchaus auf mich aufpassen …«
»Das ist mir aufgefallen.«
»Es war die Atmosphäre. Sie behinderte mich bei der Arbeit. Jim sagte, er würde für einen Monat in die Staaten gehen, und meinte, ich könne solange seine Wohnung hüten. Vielleicht würde es Lance irgendwann langweilig werden, an die Tür einer leeren Wohnung in Camden zu klopfen. Und in der Zwischenzeit könnte ich den Kopf wieder freikriegen.«
»Lance ist Ihr Freund?«
»Ex-Freund. Er ist schon etwas älter – Mitte vierzig!«
Fliss Hornby ihrerseits war Ende zwanzig. Sie war früher mal verheiratet gewesen, wollte aber nicht darüber reden. Jedem Menschen war ein Fehler im Leben gestattet. Das Problem war nur, dass sie den einen Fehler immer wieder von Neuem machte.
Inzwischen hatten sie eine Flasche Weißwein geleert. Beziehungsweise Fliss hatte sie geleert; Reeve war nach einem einzigen Glas zu Eiswasser übergegangen.
Sie atmete tief durch und reckte dann mit geschlossenen Augen den Nacken erst in die eine, dann in die andere Richtung. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und machte die Augen wieder auf.
»Was wollen Sie also tun?«, fragte sie.
»Ich weiß auch nicht genau. Ich hatte vor, die Wohnung zu durchsuchen.«
»Gute Idee. Jim hat seinen ganzen Kram in den Flurschrank gestopft, und unter dem Bett liegen noch ein paar Koffer.« Sie sah den Ausdruck in seinem Gesicht. »Wär es Ihnen lieber, wenn ich das mache?«
Reeve schüttelte den Kopf. »Hat er Ihnen nicht gesagt, was er in den Staaten wollte?«
»Er war immer ziemlich geheimniskrämerisch, wenn es um seine Storys ging – besonders in der Anfangsphase der Recherchen. Wollte nicht, dass ihm jemand die Ideen klaute. Was schon irgendwie nachvollziehbar ist. Journalisten haben keine Freunde – man ist entweder eine Quelle oder Konkurrenz.«
»Bin ich eine Quelle?«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn es eine Story gibt …«
Reeve nickte. »Das würde Jim gefallen. Er hätte gewollt, dass die Story zu Ende geführt wird.«
»Immer vorausgesetzt, wir finden überhaupt den Anfang. Keine Akten, keine Notizen …«
»Vielleicht in der Wohnung.«
Sie trank den letzten Rest Wein aus. »Worauf warten wir dann noch?«
Reeve versuchte sich vorzustellen, wie jemand Fliss Hornby bedrohte. Er stellte sich vor, wie er dem Betreffenden wehtat. Das war nicht schwierig. Er kannte Druckpunkte, Verdrehungswinkel, Qualen, die nur darauf warteten, ausgelotet zu werden. Er konnte einen Menschen filetieren wie ein Küchenchef eine Nordseescholle. Er konnte ihn dazu bringen, das Vaterunser rückwärts aufzusagen und dabei gleichzeitig Sand und Kies zu schlucken. Er konnte einen Mann brechen.
Das waren Gedanken, vor denen ihn der Psychiater gewarnt hatte.
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