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Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)

Titel: Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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eine einzige, allgemeine Mutprobe: Wer als Erster bremste, hatte verloren.
    Noch aufgedreht vom Koffein und der lauten Musik – und ein bisschen benommen durch den fehlenden Schlaf -, spielte Reeve verbissen mit und erwischte, wie es aussah, tatsächlich die richtige Abfahrt. Die Ortsnamen sagten ihm nichts und schienen sich von Schild zu Schild zu ändern, also konzentrierte er sich lieber auf die Straßennummern. Er bog vom périphérique runter auf die A6 und hatte keine Schwierigkeiten, die A10 zu finden, die sich l’Aquitaine nannte. Jetzt war er auf dem richtigen Weg. Er feierte das mit einem kurzen Tankstopp – für das Auto wie für sich selbst. Eine weitere doppelte Dosis Espresso und ein Croissant.
    Als er, noch vor Poitiers, anfing zu halluzinieren – explodierende Sterne vor den Augen -, hielt er an, um etwas zu schlafen. Ein billiges Motel am Straßenrand sah verlockend aus, aber er blieb trotzdem im Auto. Er wollte es sich nicht zu bequem machen; andererseits hätte es auch keinen Sinn gehabt, bei seinem Rendezvous mit Marie Villambard völlig übernächtigt aufzukreuzen, unfähig, sich zu konzentrieren. Er ließ die Lehne des Beifahrersitzes bis zum Anschlag runter und rutschte hinüber, so dass ihm das Lenkrad nicht die Eingeweide abklemmte. Seine Augen fühlten sich an, als seien sie voller Sand, und waren ihm sicher dankbar, als er sie endlich zumachte. Die am Raststättenparkplatz vorübersausenden Autos kamen ihm vor wie Wellen, die in kurzen Abständen am Ufer zerschellten, die donnernden Laster wie Herzschlag. Binnen einer Minute war er eingeschlafen.
    Er schlief vierzig Minuten lang wie ein Stein, dann stieg er aus und machte, auf die Motorhaube gestützt, ein paar Stretch-Übungen. Er ging mit seiner Zahnbürste zu den Toiletten, putzte sich die Zähne und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann zurück zum Wagen. Er war noch hundertfünfzig, höchstens hundertsechzig Kilometer von seinem Ziel entfernt. Trotz der Zwischenstopps war er gut vorangekommen. Im hinteren Teil seines Straßenatlasses hatte er einen Stadtplan von Limoges gefunden. Die Stadt besaß zwei Bahnhöfe: Der, auf den es ihm ankam – die Gare des Bénédictins -, lag im Osten, der andere im Westen. Er fuhr die N147 in südlicher Richtung und erreichte Limoges von Norden her. Fast augenblicklich fingen die Straßen an, ihm Schwierigkeiten zu machen. Entweder sie besaßen keinerlei Straßenschilder oder Wegweiser, oder sie waren Einbahnstraßen. So irrte er durch die Gegend, musste rechts und links und wieder rechts abbiegen … bis er nicht mehr wusste, wo er war. Irgendwann stieß er auf ein Schild, das zur gare SNCF wies, aber nachdem er ihm eine Zeitlang gefolgt war, kamen keine weiteren Schilder, und er hatte sich wieder verfahren. Schließlich fuhr er auf einer schmalen Einkaufsstraße an den Bordstein – beziehungsweise an die nahtlose Reihe parkender Autos – und fragte einen Passanten nach dem Weg. Man hätte meinen können, er hätte sich danach erkundigt, wie man eine Operation am offenen Herz durchführt: Ah, sehr schwierig von hier aus, er würde wenden und wieder zurückfahren müssen, das Einbahnstraßensystem sei térriblement kompliziert …
    Reeve dankte dem Mann und fuhr – mit einer entschuldigenden Handbewegung in Richtung der hupenden Schlange, die sich in der Zwischenzeit hinter ihm gebildet hatte – wieder los.
    Schließlich erreichte er eine Brücke und sah Eisenbahngleise unter sich, er folgte ihnen, so gut es eben ging. Und zuletzt sah er es: ein gigantisches Kuppelgebäude mit einem noch höheren Uhrenturm daneben. Bénédictins. Es sah eher aus wie ein Museum als wie ein Bahnhof. Reeve warf einen Blick auf seine Uhr. Es war halb fünf. Er fand eine Parklücke, schloss den Wagen ab und nahm sich ein paar Minuten Zeit, um sich zu beruhigen und ein paar weitere Lockerungsübungen zu machen. Sein ganzer Körper surrte innerlich, als stünde er unter Strom. Er betrat die Bahnhofshalle, wandte sich nach links und sah Restaurant und Bar.
    Vor der Bar blieb er wieder stehen und tat so, als würde er sich nach einem Freund umsehen. Tatsächlich hielt er nach dem Gegenteil Ausschau, aber bei dem Gewimmel von Menschen war es schwierig, zu einem verlässlichen Urteil zu gelangen. Es gab Penner und Studenten, junge Männer in Militäruniformen und Geschäftsleute mit Aktenkoffern. Manche starrten nervös auf die Anzeigetafeln; andere saßen auf Bänken und rauchten oder blätterten Zeitschriften durch.

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