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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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und sie wich Hesters Blick nicht aus. Hester spürte etwas von der Kraft der anderen Frau, der Entschlossenheit, die sie zu dem gemacht hatte, was sie war, und die sie jetzt dazu trieb, um ihrer Kinder willen ihren eigenen Schmerz zu bezwingen.
    Vielleicht lag etwas von ihrer Bewunderung in ihrer Miene, denn Genevieve gab ihre abweisende Haltung auf und lächelte ein wenig kläglich, zum Teil wohl auch über ihre eigene Torheit.
    Genevieve schien ein zu strenger Name für eine solche Frau, die so erdverbunden, so lebhaft, so sehr sie selbst war. Im Lampenlicht konnte Hester den Schatten sehen, den ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen, und die zarten Härchen auf der Haut. Hatte Angus sie Genny genannt?
    Genny… Ginny?
    War das die Lösung des Rätsels, die Erklärung für ihre scharfsichtige Beurteilung der Menschen in Limehouse und die schreckliche Angst vor Armut? War es die Vertrautheit mit diesen Zuständen, die ihre Entschlossenheit stärkte, um jeden Preis zu verhindern, daß ihre Kinder jemals die Kälte, den Hunger, die Angst und die Scham erleben sollten, die sie gekannt hatte? Der Schmutz und die Verzweiflung der Elendsviertel von Limehouse standen ihr noch deutlich vor Augen, und kein Luxus würde diese Erinnerung je auslöschen. Vielleicht war sie das Mädchen, von dem Mary gesprochen hatte, das Mädchen, das durch eine Heirat Limehouse entfliehen konnte.
    »Ja«, sagte Hester leise. »Ja, ich verstehe. Ich bin sicher, Monk wird alles tun, was in seiner Macht steht, um Angus' Tod zu beweisen. Er ist ungeheuer klug. Wenn er es auf die eine Weise nicht schafft, wird er einen anderen Weg finden. Sie dürfen nicht verzweifeln.«
    Genevieve sah sie an, und in ihren Augen standen Hoffnung und Neugier. »Kennen Sie ihn gut?«
    Hester zögerte. Was sollte sie darauf antworten? Sie war nicht sicher, ob sie selbst die Antwort kannte, und sie war erst recht nicht bereit, sie anderen mitzuteilen. Was wußte sie denn schon von ihm? Die Bereiche, die sie nicht kannte, waren riesig wie dunkle Höhlen; vielleicht kannte nicht einmal er sie.
    »Nur beruflich«, erwiderte sie mit einem gezwungenen Lächeln. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, so daß Genevieve die Gefühle, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelten, nicht entschlüsseln konnte. In ihren Gedanken tauchte plötzlich wieder die Erinnerung an jene wenigen Augenblicke in dem abgeschlossenen Raum in Edinburgh auf, die Erinnerung an das Gefühl, als seine Arme sie umfangen hielten, und an diesen einen leidenschaftlichen, herrlichen Kuß.
    »Ich habe ihn während der Arbeit an anderen Fällen erlebt«, sprach sie eilig weiter, denn sie wußte, daß ihr Gesicht glühte. Konnte Genevieve erkennen, daß sie log? Wahrscheinlich ja.
    »Sie dürfen die Hoffnung auf keinen Fall aufgeben.« Sie redete zuviel und versuchte deshalb, das Thema zu wechseln.
    »Zumindest sieht es so aus, als hätte er die Wahrheit in Erfahrung gebracht. Jetzt wird er auch eine Möglichkeit finden, sie zu beweisen, zumindest so weit, daß die Behörden…« Sie hielt inne.
    Genevieve lächelte. Sie sagte nichts, aber ihr Schweigen war beredt genug.
    Hester hatte das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein, aber nicht von Genevieve, sondern von ihrer eigenen Unbesonnenheit.
    »Sie kommen aus Limehouse, nicht wahr?« sagte sie leise und ließ es wie eine Tatsache klingen, nicht wie eine Anschuldigung. Halb und halb wußte sie, daß es ein Angriff war, mit dem sie versuchte, sich selbst zu verteidigen.
    Genevieve errötete, aber ihre Augen, in denen keine Spur von Zorn lag, hielten Hesters Blick stand.
    »Ja. Jetzt kommt es mir so vor, als sei das alles in einem anderen Leben passiert; der Unterschied war so groß, und es ist jetzt so viele Jahre her.« Sie rutschte auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorn, und das Lampenlicht fiel ihr ins Gesicht und ließ den Ausdruck von Stärke darin dem einer deutlich sichtbaren Erleichterung weichen. »Aber ich lasse mich durch nichts und niemanden dorthin zurücktreiben. Meine Kinder werden dort nicht aufwachsen! Und ich werde nicht zulassen, daß Lord Ravensbrook für ihr Essen und ihre Kleidung aufkommt und ihnen vorschreibt, welche Art von Menschen sie werden sollen. Ich werde nicht zulassen, daß er sie an sich reißt, damit sie Angus' Platz einnehmen.«
    »Würde er so etwas denn tun?« fragte Hester langsam, während sie in Gedanken Ravensbrooks dunkles, aristokratisches Gesicht mit all seiner Arroganz und all seinem Charme vor sich

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