Sein Bruder Kain
sah.
»Ich weiß es nicht«, gestand Genevieve. »Aber ich habe Angst davor. Ich fühle mich schrecklich allein ohne Angus. Er hat mich verstanden. Er wußte, wo ich herkam, und meine gelegentlichen Fehler haben ihn nicht gestört…«
Eine Welt voller Angst und Demütigung tat sich vor Hesters innerem Auge auf. Sie sah plötzlich vor sich, wie das Leben im Hause Ravensbrook für Genevieve sein würde, Tag und Nacht, wie sie bei jeder Mahlzeit beobachtet und schon bald kritisiert werden würde. Ravensbrook würde all die winzigen Fehler bemerken, jede noch so geringe Abweichung von der gesellschaftlichen Norm, den kleinsten Grammatikfehler, aber, was vielleicht noch schlimmer war, auch das Personal würde es bemerken, der aufmerksame Butler, die herablassende Haushälterin, die kichernden Hausmädchen. Nur Enid würde sich wahrscheinlich nichts daraus machen.
»Natürlich«, sagte sie mit echtem Gefühl. »Sie müssen ihr eigenes Zuhause behalten, Mrs…«
Ein energisches Klopfen an der Tür unterbrach sie, und die Haushälterin kam herein, mit grimmiger Miene und an ihrem Gürtel klimpernden Schlüsseln.
»Da ist eine Person, die Sie sprechen möchte, Miss Latterly«, sagte sie. »Sie sollten besser den Anrichteraum des Butlers benutzen. Mr. Dolman sagt, er habe nichts dagegen. Ich bitte um Verzeihung, Mrs. Stonefield.«
»Was für eine Art von Person?« erkundigte sich Hester.
Das Gesicht der Haushälterin veränderte sich nicht im mindesten, sie zuckte mit keiner Miene.
»Eine männliche Person, Miss Latterly. Alles weitere müssen Sie selbst herausfinden. Bitte beachten Sie, daß wir dem weiblichen Personal nicht gestatten, Verehrer zu haben, und das gilt auch für Sie, solange Sie hier wohnen, welche Aufgabe Ihnen hier auch immer zugewiesen ist.«
Hester war sprachlos. Aber Genevieve tat sich keinen Zwang an.
»Miss Latterly ist keine Dienerin, Mrs. Gibbons«, sagte sie scharf. »Sie ist eine berufstätige Frau, die, ohne eine Bezahlung dafür zu verlangen, ihre Zeit opfert, um Lady Ravensbrook zu pflegen, die vielleicht gestorben wäre, wenn Miss Latterly sich nicht um sie gekümmert hätte!«
»Wenn man Krankenpflege als Beruf bezeichnen kann«, erwiderte Mrs. Gibbons naserümpfend. »Und es ist der gütige Gott, der die Kranken heilt, nicht einer von uns, Mrs. Stonefield. Als gute Christin wissen Sie das sicher.«
Eine Reihe von Gedanken bezüglich der Tugenden guter Christinnen schossen Hester durch den Kopf, angefangen mit Barmherzigkeit, aber das war nicht der rechte Zeitpunkt, einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Vielen Dank, daß Sie mich benachrichtigt haben, Mrs. Gibbons«, sagte sie und entblößte ihre Zähne zu einem verzerrten Lächeln. »Wie freundlich von Ihnen.« Dann nickte sie Genevieve noch kurz zu, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ den Raum.
Der Anrichteraum des Butlers lag zwei Türen weiter auf dem Flur, und sie ging ohne anzuklopfen hinein.
Sie war erschrocken, als sie Monk vor sich sah, mit abgehärmtem und bleichem Gesicht, in dem eine solche Anspannung lag, wie sie sie seit dem Grey-Fall nicht mehr bei ihm gesehen hatte.
»Was ist passiert?« fragte sie und schloß die Tür hinter sich. Ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. »Es kann nicht um Stonefield gehen, oder? Es… es ist doch nicht Callandra?« Die Angst raubte ihr fast die Sinne. »Ist Callandra etwas zugestoßen?«
»Nein!« Seine Stimme klang schrill. Er konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Nein«, wiederholte er ein wenig ruhiger. Seine Miene verriet einen Aufruhr der Gefühle, und es fiel ihm offensichtlich extrem schwer, diese in Worte zu fassen.
Sie unterdrückte ihre Ungeduld. Sie hatte schon früher Schock und Angst erlebt und kannte die Anzeichen. Um Monk in einen solchen Zustand zu bringen, mußte etwas wahrhaftig Schreckliches passiert sein.
»Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir«, sagte sie sanft, »was geschehen ist.«
Zorn loderte in seinen Augen auf, erstarb dann wieder und machte abermals Angst Platz. Die bloße Tatsache, daß er keine scharfe Entgegnung parat hatte, erschreckte sie. Sie setzte sich auf den graubraunen, dick gepolsterten Stuhl und faltete ihre Hände unter der Schürze auf dem Schoß, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Finger sich verkrampften.
»Man hat mich beschuldigt, eine Frau vergewaltigt zu haben.« Er stieß die Worte zwischen seinen Zähnen hervor, ohne sie anzusehen.
»Und sind Sie schuldig?« fragte sie ruhig, denn sie kannte sowohl seinen
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