Sein Bruder Kain
litte er an Halluzinationen, drehte sich dann um und ging zurück über die East India Dock Road, um irgendwo einen Hansom zu finden und nach Hause zu fahren.
Als Monk am nächsten Morgen erwachte, drehte sich alles vor seinen Augen, und sein Körper fühlte sich steif und durchgefroren an, aber er hatte auch das Gefühl, daß er endlich etwas erreichen würde. Als er dann aus dem Bett stieg und niesen mußte, erinnerte er sich wieder an Brasilia, und alle Freude strömte aus ihm heraus, als hätte er eine Ader geöffnet.
Er wusch, rasierte und zog sich an, bevor er sich mit den Kleidungsstücken beschäftigte, die er am vergangenen Abend eingetauscht hatte. Seine Vermieterin brachte ihm das Frühstück, und er aß es, ohne etwas davon zu schmecken. Fünf Minuten später konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, was es gewesen war.
Schließlich nahm er die Kleider zur Hand, zuerst die Jacke, die er in dem kalten Tageslicht in der Nähe des Fensters untersuchte. Sie war aus einem schönen Wollstoff und von unverwechselbarer Webart, auf althergebrachte, aber sehr ansprechende Art geschnitten, ohne Zugeständnisse an die derzeitige Mode und von einfacher Qualität. In den Saum war der Name des Schneiders gestickt. Als Beweis jedoch noch wichtiger war die Tatsache, daß die Seiten aufgeschlitzt waren, als hätte jemand ein Messer dazu benutzt. Etwa zehn Zoll unterhalb der linken Schulter, also ungefähr da, wo das Herz saß, befand sich ein vier Zoll breiter Fleck - allerdings am Rücken des Kleidungsstücks. Außerdem entdeckte Monk einen kleinen Riß am rechten Ellbogen, nicht mehr als einen Zoll lang, und eine abgeschabte Stelle am rechten Unterarm, wo mehrere Fäden aus dem Gewebe gezogen waren. Wer immer die Jacke auch getragen hatte, war in einen ernsthaften Kampf verwickelt gewesen, einen Kampf mit möglicherweise tödlichem Ausgang.
Und wie er schon am Abend zuvor bemerkt hatte, paßte die Hose genau zu der Jacke. Sie war an einem Knie aufgerissen, und beide Hosenbeine wurden von Zugfäden und Schmutzflecken verunstaltet. Der Taillenbund war im Rücken blutdurchtränkt.
Er hatte nur eine Möglichkeit. Er mußte die Kleidungsstücke Genevieve Stonefield zeigen. Ohne ihre Identifikation wären sie als Beweis nutzlos. Der Gedanke, sie einer solchen Qual auszusetzen, war ihm schrecklich, aber er hatte keine andere Wahl. Er konnte sie nicht davor bewahren. Und falls jemand die Leiche finden sollte, würde er ihr auch das nicht ersparen können.
Kein Mensch sollte einer solchen Prüfung allein ausgesetzt werden. Es sollte jemand dasein, der sie stützen konnte, der ihr zumindest äußerlichen Beistand leistete. Einen Trost, der die Grausamkeit der Wahrheit abmilderte, gab es nicht.
Aber wen konnte er darum bitten? Hester hatte mit den Typhuskranken zu viel zu tun, und dasselbe galt für Callandra. Enid Ravensbrock war immer noch zu krank. Lord Ravensbrook mochte sie nicht besonders, oder vielleicht hatte sie auch einfach Angst vor ihm. Arbuthnot war ein Angestellter und noch dazu einer, dem sie in Kürze Anweisungen bezüglich des Geschäfts würde geben müssen.
Damit blieb nur noch Titus Niven. Monk hatte vor einiger Zeit zwar einen bösen Verdacht gegen ihn gehegt, aber er wußte nichts, was wirklich gegen ihn sprach. Der Mann war freundlich, zurückhaltend und selbst zu vertraut mit seelischem Schmerz, um ihm mit Unfreundlichkeit zu begegnen. Es würde Titus Niven sein müssen. Und wenn er Mitschuld an Angus' Tod gehabt hatte, dann wäre die feine Ironie des Ganzen nur ein weiterer Mosaikstein in dieser Tragödie.
Er rollte die Kleider zu einem Bündel zusammen, schob sie in eine Reisetasche und machte sich auf den Weg.
Niven war zu Hause und empfing ihn sehr höflich, aber ohne seine Überraschung zu verbergen. Er trug dieselben elegant geschnittenen, aber ein wenig schäbigen Kleider, und im Kamin brannte, wie schon bei Monks letztem Besuch, auch diesmal kein Feuer. In dem Raum war es bitter kalt. Niven schien verlegen zu sein, entschuldigte sich aber nicht für die Zimmertemperatur. Er bot Monk heißen Kaffee an, ein Luxus, den er sich nicht leisten konnte, wie Monk sehr wohl wußte - weder den Kaffee selbst noch das Gas, um das Wasser zu erwärmen.
»Vielen Dank, aber ich habe gerade erst mein Frühstück beendet«, lehnte Monk ab. »Außerdem komme ich in einer Sache zu Ihnen, die jede Erfrischung schal erscheinen lassen würde. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen könnten,
Weitere Kostenlose Bücher