Sein Bruder Kain
angetan? Was hatte er irgendeiner Frau jemals angetan? Er wußte so wenig über sein Privatleben. Er hatte seiner Schwester Beth niemals regelmäßig geschrieben. Das wußte er aus den wenigen Briefen von ihr, die er aufbewahrt hatte. Er hatte Runcorn verachtet und war zumindest teilweise verantwortlich für das aggressive, selbstsüchtige Verhalten, das dieser jetzt ihm gegenüber an den Tag legte. Runcorn hatte Monks Geringschätzung während seiner gesamten beruflichen Karriere zu spüren bekommen. Seine zu Anfang nur leichte Abneigung gegen ihn hatte sich in Angst verwandelt, und das nicht ohne Grund. Monk hatte seine Schwächen erkannt und sie ausgenutzt.
Das war nichts, was Bewunderung verdient hätte.
Nun gut, Runcorn war kein besonders liebenswerter Mensch, er war engstirnig, egozentrisch und ein Feigling ohne jede Spur von Großmut. Aber seine Zusammenarbeit mit Monk hatte ihn noch ärmer gemacht, nicht reicher.
Wen gab es sonst noch? Niemanden aus der Vergangenheit, soweit er wußte. Vielleicht hatte er wenigstens Hermione gut behandelt! Es schien, als sei sie diejenige gewesen, die ihn fallengelassen hatte. Aber wenn er sie länger gekannt, wenn sie ihn nicht so bitter enttäuscht hätte, wäre es möglich gewesen, ihr mit der Zeit vielleicht auch weh getan zu haben.
Es war nutzlos, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.
Er überquerte die Straße, ohne auf die Pferdeäpfel zu achten, die noch nicht weggekehrt worden waren.
Was war mit der Gegenwart, der kurzen Spanne von zwei Jahren seit dem Unfall? Sein Benehmen Evan gegenüber war durchaus ehrenwert gewesen. Dessen war er sich absolut sicher. Und Callandra gegenüber auch. Sie hatte ihn gern und mochte ihn wirklich. Dieses Wissen gehörte zu seinem kostbarsten Besitz, und er klammerte sich mit einer Heftigkeit daran, die er noch vor einem Monat nicht für möglich gehalten hätte.
Aber Callandra war über Fünfzig. Ein weit ehrlicherer Spiegel wäre Hester gewesen. Wie hatte er Hester behandelt, die an seiner Seite so schreckliche Dinge erleben mußte, die im Angesicht von Fehlschlägen und Widerständen ohne jede Frage tapfer und treu zu ihm gestanden hatte?
Aber auch er war für sie dagewesen, als sie in Gefahr schwebte. Er hatte nicht einen Augenblick an ihrer Ehre oder Unschuld gezweifelt. Er hatte Tag und Nacht gearbeitet, um sie zu retten. Er hatte nicht einmal darüber nachdenken müssen: Nichts anderes wäre für ihn in Frage gekommen. Nichts anderes war ihm in den Sinn gekommen.
Aber wie hatte er sie als Frau behandelt?
Wenn er ehrlich war, mußte er sich eingestehen, daß er grundsätzlich schroff und kritisch, ja sogar beleidigend gewesen war. Er hatte es mit Absicht getan, weil er sie verletzen wollte, weil sie auf irgendeine unverständliche Art und Weise - ja was? Warum fühlte er sich so unbehaglich in ihrer Gegenwart? Weil eine elementare Wahrheit in ihr steckte, über die er nichts wissen wollte, weil sie etwas in ihm ansprach, das zu empfinden er sich nicht leisten konnte. Sie war fordernd, unbequem, kritisch. Sie verlangte etwas von ihm, das zu geben er nicht bereit war - Veränderung, Ungewißheit, Schmerz. Sie besaß die komplizierte Natur eines Mannes, nicht jedoch dessen Tugenden und Unbefangenheit. Sie verlangte Freundschaft von ihm.
Aber Drusilla war ganz anders. Die Art und Weise, wie er Hester sah, hatte nichts damit zu tun.
Er überquerte die nächste Straße, wobei er einem Karren aus dem Weg gehen mußte.
Er war glücklich mit Drusilla gewesen, hatte ihre Gesellschaft genossen. Sie war witzig, unbeschwert, geistreich, weiblich. Sie stellte keine intellektuellen Anforderungen, erzwang keine moralischen Urteile. Sie hatte nichts, was ihn ärgerte oder aus der Fassung brachte. Nein, Hester war in dieser Hinsicht kein Maßstab.
Aber hatte er Hester verletzt? War er von Natur aus selbstsüchtig, grausam? Und war er das immer schon gewesen? Das war nicht völlig auszuschließen… und in Wirklichkeit ging es eigentlich genau darum.
Er hatte nichts übrig für selbstsüchtige Menschen. Diese Eigenschaft war in jeder Hinsicht verachtenswert, eine geistige Schwäche, die jede andere Tugend überlagerte, am Ende selbst Mut und Aufrichtigkeit. Galt das auch für ihn? War er im Grunde ein Mann ohne Großmut? Drehte sich alles nur um seine eigenen Interessen?
Was für eine absolute und abgrundtiefe Einsamkeit. Es war seine eigene Bestrafung, schrecklicher als alles, was ein Außenstehender ihm auferlegen konnte.
Er mußte
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