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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Rathbone nickend. »Es widerstrebt uns, zumindest den meisten von uns, eigene Fehler zuzugeben. Vielen Dank, Mylord. Das ist alles, was ich Sie fragen wollte. Wenn Sie so freundlich wären, im Zeugenstand zu bleiben, damit mein gelehrter Freund mit Ihnen sprechen kann.«
    Ebenezer Goode war höflich und zumindest äußerlich auch sehr herzlich. Er erhob sich und schlenderte auf den Zeugenstand zu, und sein Gesicht spiegelte ehrliches Interesse wider.
    »All das muß sehr schmerzlich für Sie sein, Lord Ravensbrook. Das wäre es für jeden. Ich werde mich so kurz fassen wie möglich.« Er seufzte. »Sie haben ein lebhaftes Bild von zwei Brüdern gezeichnet, die ihr Leben mit einer tiefen inneren Verbundenheit begonnen und sich dann auseinanderentwickelt haben, der eine liebenswert, gehorsam, talentiert; der andere rebellisch, unkonventionell und, ob zu Recht oder zu Unrecht, von dem Eindruck beseelt, weniger geliebt zu werden. Es war nicht überraschend, daß er Widerwillen und Eifersucht an den Tag legte.« Er sah die Geschworenen mit seinem strahlenden, wölfischen Lächeln an.
    »Es ist ganz normal, daß Brüder gelegentlich miteinander streiten und sich prügeln. Das kann Ihnen jeder Familienvater erzählen. Und doch behaupten Sie, Sie seien nie bei einer solchen Prügelei zugegen gewesen?«
    »Das ist korrekt.« Ravensbrooks Gesicht war völlig ausdruckslos.
    »Und die daraus folgenden Verletzungen, ob sie nun von Schlägereien oder anderen Beschäftigungen herrührten, denen junge Männer eben nachgehen«, fuhr Goode fort, »wie zum Beispiel Reiten oder das Erklimmen von Bäumen - waren diese Verletzungen ernst? Gab es zum Beispiel gebrochene Knochen, Gehirnerschütterungen, gefährliche Blutungen?«
    »Nein, lediglich Schürfwunden und einige ernstere Prellungen.« Ravensbrook zuckte mit keiner Miene, und seine Stimme war so tonlos wie zuvor.
    »Bitte, sagen Sie mir, Mylord, ob einer der Brüder schwerere Verletzungen davontrug als der andere?« fragte Goode.
    »Nein. Nein, soweit ich mich erinnern kann, standen sie da einander in nichts nach.«
    Goode zuckte die Achseln.
    »Und es war nichts Ernstes dabei, nichts, was Sie für eine schwerere Verletzung halten würden, nichts, das die Absicht offenbarte, zu zerstümmeln oder dauerhaften Schaden zuzufügen?«
    »Nein.«
    »Mit anderen Worten, es war nicht mehr, als sie oder ich in unserer Jugend aushalten mußten?«
    »Ja, wenn Sie es so ausdrücken wollen«, pflichtete Ravensbrook ihm bei; seine Stimme verriet noch immer nicht das leiseste Interesse, als finde er das ganze Thema ziemlich ermüdend.
    »Ihres Wissens hat diese bedauerliche Eifersucht also nie zu Schlimmerem als Worten geführt?« drängte Goode ihn.
    »Meines Wissens nicht, nein.«
    Goode schenkte dem Gericht sein breites, strahlendes Lächeln.
    »Vielen Dank, Mylord. Das wäre alles.«
    Und so ging die Verhandlung weiter, zog sich durch den Nachmittag und auch noch über den folgenden Tag hin. Rathbone rief Arbuthnot auf, der aussagte, daß Angus am Tag seines Verschwindens im Büro gewesen sei, daß eine Frau ihn besucht habe, woraufhin er erklärte, daß er seinen Bruder besuchen wolle. Allerdings habe er auch seine Absicht mitgeteilt, spätestens am folgenden Tag zurückzusein.
    Ebenezer Goode konnte seine Glaubwürdigkeit nicht erschüttern und versuchte es auch gar nicht erst.
    Als nächstes kamen eine Reihe von Zeugen aus Limehouse und der Isle of Dogs zu Wort, die alle ihren kleinen Teil zu dem Bild beitrugen. Es nahm langsam, wenn auch noch immer undeutlich Gestalt an. Aber auch hier gab es nur Andeutungen, nichts, das endgültige Klarheit hätte schaffen können. Aber das Bild war düster, eine Szenerie wie geschaffen für eine Tragödie, und jeder im Gerichtssaal konnte sie wie einen eisigen Lufthauch spüren.
    Rathbone bemerkte am Rande, daß Hester neben Enid Ravensbrook saß; dunkel nahm er ihre Gesichter wahr, während sie die Parade eingeschüchterter und besorgter Menschen vorbeiziehen sahen, die einer nach dem anderen das Mosaik vervollständigten, winzige Farbtupfer zu der Geschichte, die immer noch so voller Lücken war. Er drängte all diese Eindrücke in den Hintergrund seines Bewußtseins. Ihre Gefühle durften keine Rolle für ihn spielen. Genausowenig durften die Calebs es tun, der jetzt von der Anklagebank aus in die Menge hinunterstarrte, obwohl Rathbone nicht wußte, wessen Gesichter er beobachtete, aber seine Miene zeigte noch immer dieselbe Mischung aus Angst,

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