Sein Bruder Kain
verletzt?«
»Verletzt?« Sie klang mißtrauisch.
»Steif! Ein paar blaue Flecken?«
»Ja, hm…« Sie zögerte und dachte offensichtlich darüber nach, wie weit sie mit ihren Lügen gehen konnte. Ihr Blick huschte kurz zu Caleb hinüber, dann schaute sie schnell wieder in eine andere Richtung. Sie hatte Angst und wog ein Risiko gegen das andere ab.
Rathbone hatte Mitleid mit ihr, aber er konnte ihr das nicht ersparen. Sein Beruf hatte einige Seiten, die ihm nicht besonders gefielen.
Es wäre äußerst unklug gewesen, die Geschworenen auf ihr Dilemma aufmerksam zu machen. Sie hatten Calebs Gesicht gesehen. Sie kannten ihre Situation. Es war besser, sie selbst ihre Schlüsse ziehen zu lassen, als sie von oben herab zu Ergebnissen führen zu wollen und somit zu riskieren, daß sie ihn für übereifrig hielten.
»Ich bitte Sie nicht, uns zu erzählen, wie er zu etwaigen Verletzungen gekommen sein könnte, Miss Herries«, half er ihr weiter. »Wenn Sie es nicht wissen, sagen Sie uns lediglich, ob er in irgendeiner Weise verletzt war oder nicht. Sie sind ganz gewiß in der Lage, uns eine Antwort zu geben. Er war immerhin Ihr Liebhaber.«
»Er war verletzt, ja«, räumte sie ein. »Aber er hat nicht gesagt, was passiert ist, und ich stelle keine Fragen. Es gibt Unmengen Schlägereien in Limehouse und Blackwall. Jeden Abend und fast jeden Tag prügelt sich irgendwer. Caleb hat oft etwas abbekommen, aber er hat nie jemanden umgebracht, nicht, soweit ich weiß.« Sie hob das Kinn ein klein wenig an. »Nicht, daß ihm jemals einer überlegen gewesen wäre.«
»Das kann ich durchaus glauben, Ma'am. Ich habe gehört, daß er ein Mann mit beträchtlicher Körperkraft ist, der sich bestens darauf versteht, sich selbst zu verteidigen.«
Sie straffte sich ein wenig und hielt den Kopf sehr hoch.
»Das stimmt. Niemand schlägt Caleb Stone.«
Ihr Stolz ließ ihn Mitleid empfinden, und er wußte, ohne einen Blick auf die Geschworenen zu werfen, daß es außerdem die letzte Kleinigkeit war, die er brauchte, um Vermutungen in Überzeugung zu verwandeln.
»Vielen Dank, Miss Herries.« Er drehte sich zu Goode um.
»Ihre Zeugin, Sir.«
Goode erhob sich langsam, als sei er müde, und streckte dabei seine langen Beine. Er schlenderte durch den Saal und blieb vor dem Zeugenstand stehen, wo er zu Selina aufsah.
»Äh, Miss Herries. Erlauben Sie mir, Ihnen einige Fragen zu stellen. Es wird nicht lange dauern.« Er schenkte ihr ein betörendes Lächeln. Dem Ausdruck ihres Gesichts nach zu schließen, fand sie das möglicherweise noch beunruhigender als Rathbones Eleganz. »Und ich werde Ihnen auch keinen Schmerz damit bereiten«, fügte er hinzu.
»Mhm.«
»Wunderbar. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.« Er schob seine Daumen in die Armlöcher der Weste, die er unter seiner Robe trug. »Hat Caleb Ihnen erzählt, warum er seinen Bruder überhaupt um Geld bat, trotz der negativen Gefühle, die sie füreinander hegten? Oder warum sein Bruder überhaupt bereit war, es ihm zu geben?«
»Nein, über solche Dinge hat er mit mir nicht gesprochen. Ging mich nichts an. Angus hat ihm immer Geld gegeben, wenn er welches wollte. Fühlte sich schuldig, schätze ich.«
»Weswegen fühlte er sich schuldig, Miss Herries? War Angus verantwortlich für Calebs Mißgeschick?«
»Weiß ich nicht«, sagte sie scharf. »Vielleicht war er das! Vielleicht hat er dem alten Mann Sachen erzählt, um ihn gegen Caleb aufzubringen. Er war ja immer ganz der liebe Junge, konnte kein Wässerchen trüben. Woher soll ich wissen, wie's in ihm ausgesehen hat? Ich weiß nur, daß er jedesmal kam, wenn Caleb nach ihm schickte.«
»Ich verstehe. Und wirkte Angus irgendwie verängstigt, als sie ihm Calebs Nachricht überbracht haben?«
»Was?«
»Ich bitte um Entschuldigung. Hatten Sie das Gefühl, daß er Angst hatte oder sich irgendwelche Sorgen machte? Ging er nur ungern nach Limehouse?«
»Nein. Hmm… ich schätze, er wollte sein Geschäft nicht im Stich lassen, aber das hat er nie gern getan. Ist ja auch nicht schwer zu verstehen - wer würde schon gern aus einem schönen, warmen Büro in 'ner feinen Straße in irgend 'ne Kneipe auf der Isle of Dogs gehen?«
»Niemand, da haben Sie recht«, pflichtete Goode ihr bei.
»Aber abgesehen von diesem natürlichen Widerstreben war er wie immer?«
»Mhm.«
»Und er hatte sich schon häufig mit Caleb getroffen?«
»Mhm.«
»Er hat Ihnen nicht zum Beispiel angeboten, Ihnen das Geld zu geben, um sich den Weg
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