Sein Bruder Kain
hatte noch nicht einmal angefangen. Er ist ein verdammt gerissener Anwalt.« Sie kamen an einer Gruppe dunkel gekleideter Männer, die sich leise unterhielten, vorbei und wären fast mit einem Gerichtsdiener zusammengestoßen, der in die andere Richtung lief. »Wir wissen, daß Caleb Angus getötet hat«, fuhr Monk fort. »Oder zumindest ich weiß es… weil ich gehört habe, wie er es zugab, ja sogar damit prahlte. Aber das ist kein Beweis. Er hatte immer noch Hoffnung.«
»Vielleicht wußte er das nicht. Ich bin nämlich auch ein verdammt gerissener Anwalt!« sagte Rathbone.
»Haben Sie das gewollt?« fragte Monk, der mit fliegenden Mantelschößen neben Rathbone durch den Korridor eilte. »Man kann nicht beweisen, daß er schuldig ist, also überredet man den armen Teufel zu einem zweiten Mord, gleich an Ort und Stelle, in seiner Gefängniszelle, damit wir ihn dafür hängen können, ohne Wortklaubereien und Spitzfindigkeiten? Nicht einmal Ebenezer Goode könnte ihm dann noch helfen!«
Rathbone hatte eine gleichermaßen zynische Antwort auf der Zunge, als er Monk ein wenig genauer ansah und die Verwirrung in seinem Gesicht bemerkte. Es war nicht nur Zorn. Es waren auch Zweifel und Schmerz, die er da sah.
»Was?« fragte er und blieb wie angewurzelt stehen.
»Sind Sie taub? Ich sagte…«, begann Monk.
»Ich habe gehört, was Sie sagten!« fuhr Rathbone ihn an. »Es war absoluter Unsinn - ich werde es ignorieren. Ich versuche zu ergründen, was Sie meinen. Irgend etwas verwirrt Sie, und das ist mehr als nur die Fragen, die wir uns zuvor gestellt haben, und die Tatsache, daß wir fast mit Sicherheit davon ausgehen müssen, daß wir jetzt niemals eine Antwort darauf erhalten.«
»Ravensbrook sagt, Caleb habe ihn angegriffen.« Monk ging wieder weiter. »Und er habe ihn abgewehrt. In dem Kampf wurde Caleb dann getötet… aus Versehen.«
»Ich habe es gehört«, sagte Rathbone, während sie die Stufen zu den Zellen hinuntergingen. »Warum? Was denken Sie? Daß es in Wirklichkeit Selbstmord war und Ravensbrook die Sache vertuscht? Warum?« Sie mußten ein ganzes Stück weit hintereinander hergehen, bevor Monk ihn am Fuß der Treppe wieder einholte. »Es ergibt keinen Sinn«, fuhr Rathbone fort.
»Aus welchem Grund sollte er so etwas tun? Der unglückliche Mann ist tot, und wahrscheinlich schuldig, vielleicht sogar erwiesenermaßen. Wozu sollte er ihn schonen? Ihn oder sonst jemanden?«
»Vor dem Gesetz ist er unschuldig«, sagte Monk stirnrunzelnd. »Seine Schuld ist jedenfalls nicht erwiesen, was immer wir auch wissen mögen, Sie und ich. Wir zählen nicht.«
»Um Gottes willen, Monk, die Öffentlichkeit weiß es. Und sobald das Gericht wieder zusammentritt, wird es ihn auch für den Versuch, Ravensbrook zu töten, verurteilen.«
»Aber als Selbstmörder wird er in ungeweihter Erde begraben«, bemerkte Monk. Sie standen jetzt direkt vor dem Eisenportal, das zu den Zellen führte. »Auf diese Weise wird er nicht verurteilt, sondern nur angeklagt. Die Leute können glauben, was sie wollen. Er wird der Nachwelt als unschuldiger Mann in Erinnerung bleiben.«
»Ich könnte mir denken, daß es, wenn es überhaupt eine Lüge ist«, wandte Rathbone ein, »wahrscheinlicher ist, daß Ravensbrook vermeiden will, daß man ihm vorwirft, dem Mann gestattet zu haben, sich das Leben zu nehmen, was moralisch gesehen zu jeder Zeit falsch wäre, juristisch gesehen besonders heikel, da er sich in Gewahrsam befand und eine Verhandlung gegen ihn lief.«
»Da könnten Sie recht haben«, räumte Monk ein.
»Vielen Dank«, erwiderte Rathbone. »Ich halte es für das Wahrscheinlichste, daß er uns einfach eine Mischung präsentiert von dem, was er in der ganzen Verwirrung tatsächlich mitbekommen hat, und seiner Auslegung der Ereignisse.« Monk antwortete nicht, sondern klopfte scharf an die Tür.
Mit einigem Widerstreben ließ man sie ein. Rathbone mußte auf seine Eigenschaft als Prozeßbeteiligter pochen, und Monk hatte es hauptsächlich der instinktiven Reaktion des Gefängniswärters zu verdanken, daß er eingelassen wurde, denn der Mann kannte ihn aus der Vergangenheit und war daran gewöhnt zu gehorchen.
Man führte sie in ein kleines Zimmer, einen Aufenthaltsraum für die diensthabenden Gefängniswärter. Ravensbrook saß in sich zusammengesunken auf einem unbequemen Holzstuhl. Sein Haar und seine Kleider waren in Unordnung, und seine Arme, seine Brust, ja sogar sein Gesicht waren blutbespritzt. Er schien sich in einem
Weitere Kostenlose Bücher