Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
klang so, als seien seine Lippen steif und als gehorche seine Zunge ihm nur widerwillig. Seine Stimme war seltsam tonlos. Rathbone hatte das schon früher bei Menschen erlebt, die unter Schock standen. »Zuerst schien er erfreut, mich zu sehen«, fuhr Ravensbrook fort. »Beinahe erleichtert. Ein paar Minuten lang unterhielten wir uns dann über Nichtigkeiten. Ich fragte ihn, ob er irgend etwas brauchte, ob es etwas gebe, was ich für ihn tun könnte.« Er schluckte, und Rathbone sah, wie seine Kehle sich zuschnürte.
    »Er sagte sofort, daß es durchaus etwas gebe.« Ravensbrook sprach mit Monk und ignorierte Rathbone. »Er wollte eine Aussage niederschreiben. Ich dachte, er würde sich vielleicht das Ganze von der Seele reden wollen, eine Art Geständnis, um Genevieves willen. Um ihr zu sagen, wo Angus' Leiche sei.« Er sah Monk nicht direkt an, sondern schien den Blick nach innen zu richten.
    »Und wollte er das tatsächlich?« fragte Rathbone, obwohl er das im Grunde nicht für möglich hielt. Es war nur eine letzte, verzweifelte Chance, daß er vielleicht doch etwas gesagt haben könnte. Aber was würde es schon bedeuten, abgesehen davon, daß Genevieve klarer sah? Und war das gut oder schlecht? Vielleicht war Unwissen barmherziger.
    Ravensbrook sah ihn zum erstenmal an.
    »Nein…«, sagte er nachdenklich. »Nein, ich denke nicht, daß er überhaupt die Absicht hatte, etwas niederzuschreiben. Aber ich habe ihm geglaubt. Ich habe den Wärter um die notwendigen Utensilien gebeten, die dieser mir auch beschafft hat. Dann bin ich wieder hineingegangen. Er hat mir die Feder entrissen, sie in das Tintenfaß getaucht, das ich auf den Tisch gestellt hatte, und dann einen Versuch unternommen zu schreiben. Ich glaube, er hat nur so getan, als ob. Dann sah er mich an und sagte, die Feder sei stumpf und an der Spitze gesplittert und ob ich sie anspitzen könne.« Er bewegte seine Schultern ganz leicht, als wolle er ein Achselzucken andeuten. »Natürlich war ich damit einverstanden. Er gab mir die Feder. Ich habe sie abgewischt, damit ich sehen konnte, was ich tat, und als ich dann mein Messer zur Hand nahm und es aufklappte…«
    Niemand im Raum bewegte sich. Der Wärter schien wie gebannt zuzuhören. Kein Laut aus der Außenwelt, aus dem Gerichtsgebäude jenseits der schweren Eisentür drang zu ihnen herein.
    Ravensbrook sah Monk an, und seine Augen waren dunkel und voller Grauen. Dann blickte er wieder, beinahe als zöge er einen Vorhang vor seiner Seele zu, an ihm vorbei. Seine Stimme war ein wenig schrill, als gelänge es ihm nicht, seine Kehle zum Sprechen freizumachen. »Im nächsten Augenblick spürte ich einen gewaltigen Schlag und wurde gegen die Wand gedrängt, und Caleb lag über mir.« Er holte tief Luft. »Wir haben einige Augenblicke miteinander gerungen. Ich habe getan, was ich konnte, um mich zu befreien, aber er verfügte über unglaubliche Kräfte. Er schien entschlossen zu sein, mich zu töten, und das einzige, was mir blieb, war, das Messer von meiner Kehle wegzudrücken. Ich habe mit aller Macht gekämpft, wahrscheinlich, weil ich in der Klinge die Nähe des Todes gesehen habe. Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist. Er fuhr zurück, rutschte weg und verlor irgendwie das Gleichgewicht, fiel hin und riß mich mit sich.«
    Rathbone versuchte, sich die Szene vorzustellen, die Angst, die Gewalt, die Verwirrung. Es war nicht schwierig.
    »Als ich mich befreite und es mir gelang, auf die Füße zu kommen«, fuhr Ravensbrook fort, »lag er da mit dem Messer in der Kehle, und Blut floß aus der Wunde. Es gab nichts, was ich hätte tun können. Gott helfe ihm. Zumindest hat er jetzt eine Art Frieden gefunden. Zumindest erspart ihm das den…«, er atmete tief und stieß die Luft mit einem Seufzer wieder aus. »…den gerichtlichen… Prozeß.«
    Rathbone sah zu Monk und erkannte in dessen Gesicht dieselbe Qual, sowie das Wissen, daß es hier keine Ausflüchte, kein Entkommen gab.
    »Vielen Dank«, sagte Monk zu Ravensbrook. Dann ging er, gefolgt von Rathbone, durch den Raum, drückte die Zellentür weiter auf und trat ein. Caleb Stone lag in einer Blutlache auf dem Boden. Das Taschenmesser, ein schöner, mit einer Gravur versehener Silbergegenstand, lag etwas entfernt von seinem Hals am Boden, als wäre es durch sein eigenes Gewicht aus der Wunde gefallen. Es stand außer Frage, daß der Mann tot war. Die wunderschönen grünen Augen waren geöffnet und blicklos. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck der

Weitere Kostenlose Bücher